Nachtprinzessin
umtrug.
Matthias schüttelte sich kaum merklich.
An einem der hinteren Tische sah er seine Mutter stehen. Sie war im Gespräch mit einem älteren Ehepaar und lachte. Ihr Collier funkelte in der untergehenden Sonne. Sicher war es an einem Sommerabend wie diesem zu schwer, zu pompös, einfach overdressed, aber Matthias wusste, dass sie es für ihn trug. Nur für ihn. Das rührte ihn und machte ihn stolz und verlegen zugleich.
Es dämmerte, und Thilda spürte, dass sie sich langsam entspannte. Auf Festen dieser Art hatte sie die Dunkelheit immer als tröstlich empfunden. Am liebsten wäre sie mit ihrer Mutter und ihren Brüdern überhaupt erst um zweiundzwanzig Uhr auf dem Sommerfest erschienen, aber das war mit ihrer Mutter nicht zu machen. Ingeborg von Dornwald hatte ständig Angst, irgendetwas zu verpassen, vom Buffet nicht genug abzubekommen und den wichtigsten Tratsch nicht zu hören.
Und so stand Thilda mit ihrem schwarzen Kleid in der gleißenden Sonne und wusste nicht, mit wem sie sich unterhalten sollte. Es kam auch niemand zu ihr und sagte: »Hallo, wie geht’s?« Es interessierte sich einfach niemand für sie, und das war ihr ungeheuer peinlich. In ihrer Not wanderte sie durch den Park, aber dort gab es keine Sitzgelegenheiten, und es war unmöglich, von einem Teller zu essen und gleichzeitig ein Glas in der Hand zu halten. Als sie sich auf einen Stein setzte und versuchte, ihr Sektglas im Gras auszubalancieren, rollte ein gefülltes Weinblatt vom Teller und über ihr Kleid. Sie versuchte, die Flecken mit der bloßen Hand auszureiben, was aber nur teilweise gelang. Das Heulen saß ihr im Hals, und sie schluckte unentwegt, um nicht auch noch in Tränen auszubrechen und ihr spärliches Augen-Make-up zu ruinieren.
Schließlich stellte sie ihren Teller neben das mittlerweile umgekippte Glas ins Gras, stützte ihre Arme hinter dem Rücken ab, warf den Kopf in den Nacken und schloss die Augen.
Immer wieder tauchte Matthias in ihren Gedanken auf, jede noch so kleine Szene, die sie beobachtet hatte, ließ sie Revue passieren. Wie er ihrem Bruder den Koffer aus dem Auto gehoben hatte, fast automatisch, ohne viel nachzudenken, und dann die Fassungslosigkeit auf seinem Gesicht. Wie er Unmengen von Garnelen verdrückt hatte und sie sich sicher gewesen war, dass ihm von so viel Eiweiß schlecht werden würde. Fasziniert hatte sie zugesehen, wie lässig er durch die Gegend schlenderte und hier und da mit einzelnen Gästen ein paar Worte wechselte, die er sicher genauso wenig kannte wie sie. Sie beneidete ihn um seine Fähigkeit, belanglose Konversation zu halten, und wartete darauf, dass er auch zu ihr kommen und ein paar Sätze mit ihr wechseln würde. Aber er kam nicht.
Jetzt im Dunkeln wurde sie mutiger, ihr schwarzes Kleid sah nun auch nicht mehr so deplatziert aus wie im grellen Sonnenlicht und der Hitze des Tages.
Sie holte sich ein Glas kühlen Weißwein und stellte sich neben ihn. Einen Schritt zurückversetzt, sodass er sie erst bemerkte, als sie ihn ansprach.
»Hei«, sagte sie zaghaft, »kannst du dich noch an mich erinnern?«
Matthias drehte sich überrascht zu ihr um und machte eine kurze Denkpause, die er eigentlich gar nicht brauchte. »Jaja, klar. Ich glaube, du warst letztes Jahr nur kurz hier, weil dir irgendwie übel geworden ist …«
Thilda grinste. »Das Tiramisu war zu warm. Ich hatte drei Wochen zu tun, bis ich wieder okay war.«
Matthias nickte. Ihm fiel nichts mehr ein, was er sagen konnte. Und Thilda ging es offenbar genauso. Sie sah ihn an, lächelte verlegen und sah wieder weg. Mehrere Male. Dann meinte sie leise:
»Meine Brüder sind richtige Ekel. Ich glaube, du warst vorhin ganz schön sauer.«
Auf alles hätte sie ihn ansprechen, jede Frage hätte sie ihm stellen können, aber an die peinliche Posse mit dem Koffer wollte er nun weiß Gott nicht erinnert werden.
Daher murmelte er nur: »Kann schon sein«, und wandte sich ab. Die Diskussion mit der merkwürdigen Lady, die er für eine Schlaftablette hielt, ödete ihn an.
Thilda sah sich um. Sie standen ziemlich allein in der Nähe des Teehauses, und niemand konnte hören, dass sie beinah flüsterte: »Ehrlich gesagt, ich finde meine Brüder zum Kotzen.«
Das imponierte Matthias, und er musste grinsen.
Dennoch wandte er sich ab und ging langsam weiter. Diese kleine graue Maus hatte vielleicht mehr auf dem Kasten, als er dachte.
Thilda folgte ihm.
»Meine Brüder geben immer den großen Maxe, dabei sind sie im Grunde ihrer
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