Nachtprinzessin
Joseph Haydn, das vor dem Abendessen in der Eingangshalle gegeben wurde, schloss Matthias die Augen. Nicht weil er sich langweilte, sondern weil er einfach nach der Autofahrt entsetzlich müde war und wirken wollte wie ein Mensch, der mit der Musik aufs Innigste verschmolzen war. Aber nach einer Viertelstunde sank ihm der Kopf auf die Brust, und er nickte ein. Als seine Mutter ihm ihren Ellenbogen in die Seite rammte, schreckte er hoch und zwang sich, komplizierte Rechenaufgaben wie einhundertachtunddreißig mal siebzehn im Kopf zu lösen, um nicht erneut einzuschlafen.
Beim anschließenden Buffet sah er sie wieder. Thilda, die Schwester der unmöglichen Brüder derer von Dornwald. Er ging davon aus, dass auch der jüngere, pummelige Sohn dieser Familie, der nicht blond, sondern brünett war und jetzt beim Essen eine schmale, orangefarbene Brille trug, die ihm überhaupt nicht stand und mit der er aussah wie ein armseliger Clown, ein ähnliches Ekel war wie sein blond gegelter Bruder, obwohl er bisher noch kein Wort mit ihm gewechselt hatte.
Auch die Mutter mit ihrer grau belassenen altmodischen Hochsteckfrisur fand er auf den ersten Blick unsympathisch, und er wunderte sich selbst, dass er in diese familiäre Rundumschlag-Antipathie nicht auch Tochter Thilda mit einbezog, obwohl sie in ihrem bortenbesetzten »Kleinen Schwarzen« unmöglich aussah. Das schlichte Kleid ließ ihre Oberarme frei, die zwar weder fett noch schwammig waren, aber derartig weiß, dass man beim bloßen Anblick anfing zu frieren. Die Brustabnäher saßen zu tief an der falschen Stelle, und es gelang ihnen nicht, die bauchige Weite des Oberteils in Form zu bringen. Und dann hatte das ohnehin schon formlose Kleid eine extrem ungünstige Länge und endete knapp oberhalb der Knie, was Thildas Beine, die etwas zu gerade waren und unweigerlich an Holzstöcke erinnerten, obendrein noch plump wirken ließ.
Matthias wusste, dass sie vorhatte, Modedesignerin zu werden, was er absurd fand, aber dann erinnerte er sich daran, dass die meisten Modepäpste zwar andere Menschen anziehen konnten, aber nicht in der Lage waren, sich selbst die passende Garderobe zusammenzustellen.
Sie tat Matthias leid. Hatte sie zu Hause keinen Spiegel, in dem sie sich in ganzer Größe sehen konnte?, fragte er sich, während er sich gegrillte Knoblauchgarnelen auf den Teller häufte, das Einzige, was ihn an diesem reichhaltigen Buffet interessierte. Er beschloss, dazu noch etwas Salat, aber sonst nichts anderes zu essen.
Als er bemerkte, dass sie ihn anstarrte, und als sich ihre Blicke trafen, sah er schnell weg und ging mit seinem Teller und seinem Glas Sekt in den Garten.
Langsam schlenderte er an den hohen Stehtischen vorbei und lächelte ein paar Gästen zu, die er wohl vom Sehen kannte, aber nicht genauer und auch nicht namentlich einordnen konnte. Er überlegte gerade, an welchem Tisch er sich dazustellen sollte, als er hinter seinem Rücken hörte, wie eine dunkle Frauenstimme sagte:
»Ich finde, das geht gar nicht. Wo sind wir denn? Wenn wir nicht aufpassen, lösen sich die Adelsgeschlechter und Hierarchien allmählich in Wohlgefallen auf. Sie verwässern. Das erleben wir ja auch hier dauernd. Ich bin der Meinung, wenn ein Adliger stirbt, sollte seine angeheiratete bürgerliche Ehefrau den Titel verlieren.«
Matthias zuckte zusammen und wartete darauf, dass ihr jemand widersprach, aber das geschah nicht.
»Du hast völlig recht«, brummte eine Männerstimme.
»Es ist eine Schande, dass sich jedes Flittchen in unsere Kreise einheiraten kann«, setzte die Frau noch nach.
Matthias wagte es nicht, sich umzudrehen, er hielt es aber auch nicht aus, noch länger zuzuhören, und ging weiter. Wahrscheinlich sprachen sie über seine Mutter, die eine Bürgerliche gewesen war. Ihr Vater war Bierbrauer gewesen, ihre Mutter Hausfrau und hatte sich um sieben Kinder gekümmert. Henriette war bereits sechsundzwanzig, als sie den zweiunddreißig Jahre älteren Linus von Steinfeld kennenlernte und nur sechs Wochen später heiratete. Er war ihre ganz große Liebe und für Henriette ein Aufstieg wie im Märchen: Die Tochter aus ärmlichen Verhältnissen wurde Gutsherrin und eine »von Steinfeld«.
Aber ihr Glück war nur von kurzer Dauer, denn Linus starb, als Matthias erst drei Jahre alt war.
Henriette behielt nach Linus’ Tod seinen Namen und seinen Titel. Und wahrscheinlich war dies für einige der hier Anwesenden ein Makel, den sie auch jetzt noch mit sich her
Weitere Kostenlose Bücher