Nachtprinzessin
Horst.«
Matthias konnte sich gut vorstellen, wie sehr dies in einer kindlichen Seele schmerzte. In Alex’ Fantasie war nicht mehr er, der Sohn, das Objekt der Liebe, sondern ein fremder Mann.
Wenn nicht noch ein Wunder geschah, hatte er Alex verloren. So wie er Thilda viele Jahre zuvor verloren hatte. Aber diese Trennung hatte er mühelos verkraftet. Wenn Alex sich endgültig von ihm abwandte, würde er das niemals ertragen.
Und nun war auch noch seine Mutter gegangen.
Als er auf die Straße trat, war es erst kurz nach elf. Er wusste nicht, wohin mit sich. In seiner Wohnung standen eine Kaffeemaschine, ein Bett und sein Rasierzeug. Aber ein Zuhause war es nicht mehr.
Er setzte sich in seinen Wagen und fuhr los. Dass er zu viel getrunken hatte, war ihm egal. Wenn sie ihn erwischten, dann war es eben so – wenn nicht, umso besser.
Es war wesentlich kühler geworden. Vor dem Mond hingen die Wolkenschleier und prophezeiten schlechtes Wetter. Kein Sommerabend, den man im Freien verbringen wollte.
Den Weg dorthin, wo die Jungs auch in der Nacht noch auf der Straße standen und auf Freier warteten, kannte er im Schlaf. Niemand kontrollierte ihn, niemand hielt ihn auf.
Eine halbe Stunde später stieg ein Siebzehnjähriger bei ihm ein, lächelte und hoffte aufgrund des teuren Wagens auf ein gutes Geschäft.
23
23
Um halb fünf Uhr früh rief Susanne Knauer ihren Assistenten Benjamin Kochanowski an.
»Ben, wach auf und komm her! Möglichst innerhalb der nächsten fünf Minuten.«
»Wo bist du?«, hauchte Ben ins Telefon und war so müde, dass ihm nur einfiel: Verflucht, ich habe nur drei Stunden geschlafen.
»Volkspark Jungfernheide. Am Ostufer des kleinen Sees.«
»Was ist passiert?«
»Ein toter Junge. Also beeil dich.«
Er sprang in seine Sachen und rannte aus dem Haus.
Zwanzig Minuten später war er im Volkspark Jungfernheide am Strand des kleinen Sees, den er eher als Tümpel bezeichnet hätte. Aber das war Ansichtssache.
Überall die Blinklichter der Polizei- und Feuerwehrwagen, die ihm in den Augen wehtaten. Auch die Spurensicherung war bereits zur Stelle. Das Einzige, was ihnen um diese Zeit erspart blieb, waren Schaulustige.
Die nackte Leiche lag am Ufer des Sees, gefesselt an einen Baum mit gebogenem Stamm, der auf dem Sand lag und sich dem Wasser entgegenkrümmte. Um den Hals hatte er einen weißen Seidenschal, mit dem er auch an den Baumstamm fixiert war. Hinter dem Knoten steckte ein Stöckchen. Der Mörder hatte ihn langsam und qualvoll wie mit einer Garotte, dem mittelalterlichen Hinrichtungsinstrument, erdrosselt. Die weit aufgerissenen Augen des jungen Mannes starrten ungläubig und verzweifelt in den Nachthimmel.
Langsam zog das Licht des Morgens über den Wald.
Susanne Knauer trat zu Ben und drückte ihm einen Styroporbecher mit heißem Kaffee in die Hand.
»Jetzt ist genau das passiert, wovor wir uns die ganze Zeit gefürchtet haben«, sagte sie so leise, dass Ben sich konzentrieren musste, um sie richtig zu verstehen. »Wir haben es mit großer Wahrscheinlichkeit mit einem Serienmörder zu tun. Als Mordwaffe ein verfluchter weißer Seidenschal, handelsüblich, sündhaft teuer, aber nicht einzigartig. Ein deutlicher Unterschied ist, dass die Leiche sich diesmal nicht in einer stickigen Bude, sondern an der frischen Luft befindet.«
»Die DNA wird zeigen, ob es derselbe Täter war.«
»Du sagst es. Aber eine Besonderheit gibt es.«
»Was?«
»Komm mit!«
Ben folgte seiner Chefin und versuchte, seine Augen durch heftiges Blinken scharf zu stellen. Aber es nutzte wenig. Wegen der Müdigkeit verschwamm alles vor seinen Augen.
Am Ufer des Sees war noch eine kleine Absperrung, die Ben bis zu diesem Zeitpunkt nicht registriert hatte. Zwei Scheinwerfer beleuchteten den Platz im Sand, über den sich ein Kriminaltechniker beugte.
»Irgendein Vollidiot ist da durchgelatscht«, zischte Susanne wütend. »Ich versteh das nicht: Wir ermitteln in einem Mordfall, haben es eventuell mit einem Mehrfachtäter zu tun, und man müsste eigentlich davon ausgehen, dass die Leute, die hier arbeiten, ihren Job verstehen. Aber nein! Irgendwelche schwachsinnigen Trampeltiere sind immer dabei. Aber man kann es noch einigermaßen entziffern.«
Ben trat näher. Die Szenerie erschien ihm gespenstisch, aber jetzt sah er, was irgendjemand – wahrscheinlich mit einem Stock – in den Ufersand gekritzelt hatte: PRINZE .
»Was meinst du, was das zu bedeuten hat?«, fragte Susanne.
Ben schnaufte. »Bitte
Weitere Kostenlose Bücher