Nachtprinzessin
weil ihn bereits der Hunger quälte und er zu dem Getränk automatisch ein Schälchen mit Erdnüssen bekam.
Um diese Zeit war in der Bar nur wenig Betrieb.
»Sagen Sie, ich hab mal eine Frage«, begann er vorsichtig.
Der Barmann, der Gläser polierte, nickte ihm aufmunternd und freundlich zu.
»Ich habe heute einen Brief an meine Mutter eingesteckt. Sie wohnt in Hamburg und hat am Wochenende Geburtstag. Wie lange dauert denn hier die Post, die von Giglio abgeht? Heute ist immerhin erst Montag. Meinen Sie, der Brief kommt noch rechtzeitig an?«
Der Barmann grinste breit. »Oddio!«, rief er und rang die Hände. »Der kommt niemals rechtzeitig an! Das tut mir jetzt leid für Sie, aber auf Giglio gehen die Uhren anders. Es fängt schon mal damit an, dass kein Mensch den Postsack zum Hafen bringt, ehe er nicht ganz voll ist. Und dann steht auf dem Briefkasten zwar Leerung am Montag, Mittwoch und Freitag, aber das ist Blödsinn. Geleert wird nur freitags. Basta. Also verlässt Ihr Brief die Insel frühestens Freitagnachmittag. Oder Samstagvormittag. Vielleicht auch erst nächste Woche. So ist das eben. Wir haben uns alle gut dran gewöhnt.«
Matthias hätte jubeln können, aber er bemühte sich, ein besorgtes Gesicht zu machen.
»Du lieber Himmel!«, stöhnte er. »Was mache ich denn jetzt?«
»Gar nichts. Vielleicht sollten Sie mit Ihrer Mutter lieber telefonieren. Und im Winter ist es noch schlimmer. Weil die Fähre dann nur selten oder gar nicht fährt. Wenn Sie Anfang Dezember eine Weihnachtskarte einwerfen, dann kommt sie vielleicht im Februar an. Da sollten Sie die Ostergrüße gleich mit draufschreiben.« Er kicherte.
Matthias hörte gar nicht mehr richtig zu. Also kam der Brief sicher erst in Berlin an, wenn er die Insel bereits verlassen hatte. Das war ja wunderbar.
Er bedankte sich bei dem Barmann, bezahlte und ging. Leichten Herzens und mit schnellen Schritten lief er die Straße bergauf.
Natürlich war er gestern nicht mehr zum Auto zurückgekehrt, um es umzuparken, er hatte es einfach vergessen, und dann war es ihm auch nicht mehr als so dringend erschienen, aber der Wagen stand vollkommen unbehelligt, ohne Strafmandat oder Blessuren eines verärgerten Parkplatzbesitzers immer noch unter dem Nussbaum. Wie ein Dieb in der Nacht schob sich Matthias auf den Fahrersitz, startete den Motor und fuhr leise rückwärts vom Grundstück. Wenn er zurückkehrte, musste es eine andere Lösung geben.
Die Fahrt in das hoch gelegene mittelalterliche Bergdorf Giglio Castello dauerte nur zehn Minuten. Am liebsten hätte er ein paarmal angehalten, um von der Bergstraße aus Fotos aufs Meer hinaus zu schießen, aber er ließ es bleiben, kam sich dämlich dabei vor, wollte mit den Touristen, die zwanghaft in jeder Kurve fotografierten, nicht in einen Topf geworfen werden.
Eine gute halbe Stunde lang kletterte er durch die engen, oft von Bogen überspannten Gassen des im zwölften Jahrhundert erbauten Städtchens und sah ihn in seiner Fantasie hinter jedem Fenster. Vielleicht wohnte er ja dort? Oder da? Vielleicht öffnete sich im nächsten Moment ein Fensterladen, er würde dort stehen, ihn erkennen, lächeln und ihm zuwinken. Was für ein aberwitziger Traum, aber gleichzeitig durchaus möglich.
Er war nicht fähig, auch nur einen einzigen Schritt zu tun, ohne an Adriano zu denken. Giglio Castello verwandelte sich in einen romantischen Ort, in dem sein Prinz zu Hause war. Gebannt und fasziniert, betrachtete er jedes Haus, jede Gasse, jeden Portico und jeden verschwiegenen kopfsteingepflasterten Winkel, wo er ihn im Schatten der Laternen das erste Mal küssen würde.
Adriano war der Junge, der auf der Piazza sitzend las, der einen Wein in der Trattoria trank und der auf dem Vorplatz der Burg der Aldobrandesca mit glockenheller Stimme das Ave-Maria sang. Adriano war das Wesen von einem anderen Stern und aus einem anderen Jahrhundert, er war die Erfüllung all seiner Wünsche und Sehnsüchte.
Nach anderthalb Stunden des Umherirrens in Giglio Castello war Matthias völlig verwirrt und wusste, dass es ihm niemals gelingen würde, denselben Weg noch einmal zu finden. Er erinnerte sich, an einer Osteria vorbeigekommen zu sein, in der er jetzt ein kleines Nudelgericht essen und ein Glas Wein trinken wollte, aber er fand sie nicht wieder. Die Häuser waren ineinander verschachtelt, zogen sich über mehrere Ebenen, und hinter jeder Ecke wartete eine neue Überraschung.
Schließlich gab er es auf, verließ den Ort durch
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