Nachtprinzessin
eines der Tore und setzte sich auf die Stadtmauer. Von hier hatte er einen atemberaubenden Blick übers Meer bis hin zum Toskanischen Archipel. Seine Füße baumelten ins Leere, denn die Stadtmauer war auf Felsen erbaut, die steil nach unten abfielen. Entfernungen und auch Tiefen und Höhen hatte er noch nie gut schätzen können. Waren es fünfzig Meter oder vielleicht doch hundertfünfzig oder mehr? Genug auf alle Fälle, um einen Sturz nicht zu überleben.
Er schloss die Augen, obwohl er wusste, dass man mit geschlossenen Augen viel leichter das Gleichgewicht verlor, und stellte sich vor, wie es wäre, sich einfach fallen zu lassen. Was für eine reizvolle Versuchung, nur eine kleine Überwindung, und alles wäre vorbei. Wahrscheinlich würde er noch nicht mal den Aufprall auf den Klippen spüren. Er müsste jetzt nur den Mut haben, etwas Irrsinniges, absolut Außergewöhnliches zu tun. Es wäre einzigartig und würde zu seinem Charakter passen.
Das Absolute an dieser Idee fand er faszinierend. Es war eine Reise ohne Rückkehr. Wenn er die Entscheidung getroffen hatte und sprang, gab es kein Überdenken, kein Umkehren mehr.
Es wäre eine große Tat. Eine größere und existenziellere gab es nicht. Ein Wahnsinn, vor allem so ganz ohne Grund.
Aber dann dachte er wieder an Adriano und begriff, dass er verliebt war. Er glühte vor Leidenschaft und hatte gerade jetzt noch so viel vom Leben zu erwarten. Zu springen wäre Dummheit. Allerdings gab es eine Ausnahme: Für ihn würde er es tun. Sofort. Ohne Bedenken. Wenn es hieße, Adriano würde hingerichtet, es sei denn, er fände einen, der sich für ihn opfert – dieser eine wäre er. Er würde sich opfern. Er würde sich vom Felsen stürzen und dem Tod in der Gewissheit entgegenfliegen, dass kein Mensch auf dieser Welt jemals so selbstlos und absolut geliebt hatte wie er.
Matthias öffnete die Augen wieder. Das smaragdblaue Meer glitzerte im Sonnenlicht, in einer kleinen Bucht ankerte ein Segelboot.
Ein einziges Mal hatte er bisher geliebt, und jetzt hatte er vielleicht die Chance, so etwas noch einmal zu erleben. So ein perfektes Glück wie mit Dennis.
Dennis war stark gewesen. Stärker als er. Er hatte die Dinge geregelt, und das hatte seinem Leben eine Unbeschwertheit und Leichtigkeit gegeben, die er weder vor noch nach Dennis jemals wieder erlebt hatte.
Es passierte vor zwei Jahren, an einem Dienstag in der Woche nach Weihnachten um kurz nach zwölf. Der leichte Nachtfrost ließ die Straße im Licht der Laternen glänzen, und Matthias brauste viel zu schnell durch Berlin. Als er die Polizeikontrolle sah, war es zu spät. Er konnte ihr nicht entgehen, sondern hatte Mühe, den Wagen überhaupt zum Stehen zu bringen.
»Schön guten Abend, Fahrzeugkontrolle. Schalten Sie den Motor aus. Ihren Führerschein und die Fahrzeugpapiere hätte ich gern.«
Matthias’ Hände zitterten wie Espenlaub, als er mit Müh und Not seine Papiere aus der Brieftasche nestelte. Der Polizist, der ungefähr fünf Jahre jünger war als er, sagte nichts dazu, aber er warf ihm einen durchdringenden Blick zu, als er die Dokumente in Empfang nahm.
»Haben Sie was getrunken?«, fragte er, und Matthias hoffte, dass diese Frage nichts als reine Routine war und nicht daraus resultierte, dass er sicher eine heftige Fahne hatte.
»Zwei Gläser Wein. Ich geb’s zu, aber mehr trinke ich nie. Ich hab zusammen mit einer Kollegin zu Abend gegessen.«
»So lange? Bis nach Mitternacht?«
»Ja. Bin ich Ihnen darüber Rechenschaft schuldig?«
Der Polizist schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge. »Natürlich nicht.«
Matthias wurde immer unsicherer. Er musste mit der linken Hand die rechte festhalten, um sein Zittern zu verbergen und unter Kontrolle zu halten.
»Kleinen Moment, bitte warten Sie.« Der Polizist verschwand mit den Papieren im Einsatzwagen, und Matthias vermutete, dass er seine Personalien überprüfte.
Die zwei oder drei Minuten, die das dauerte, erschienen Matthias endlos. Er konnte sich nicht erinnern, schon jemals so in der Klemme gesessen zu haben.
Schließlich erschien der Beamte wieder. Matthias versuchte, ihn so offen und freundlich anzusehen wie nur irgend möglich, obwohl er nichts als Fluchtgedanken hatte und sich noch nicht einmal überlegen wollte, wie der Mann wohl ohne Polizeimütze aussehen würde.
Der Polizist beugte sich herunter, kam Matthias’ Gesicht extrem nahe, und Matthias wich unwillkürlich zurück.
Nach einer Ewigkeit, die aber sicher nur
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