Nachtprinzessin
später noch einmal zu versuchen – das Handy war ausgeschaltet. Was bildet sich diese kleine Kröte eigentlich ein, dachte Susanne und wählte Marlis’ Nummer.
Marlis’ Mutter meldete sich schon nach dem dritten Klingeln und klang durchaus noch sehr wach. »Ja?«
»Guten Abend, hier ist Susanne Knauer, entschuldigen Sie, wenn ich so spät noch störe, aber könnte ich wohl mal ganz kurz meine Tochter sprechen?«
Einige Sekunden lang war es still in der Leitung. Dann fragte Marlis’ Mutter etwas irritiert: »Nein, ich meine, wie soll ich das verstehen? Ihre Tochter ist gar nicht hier!«
Augenblicklich durchfuhr Susanne ein brennender Schmerz in der Brust. »Wie? Sie ist nicht bei Ihnen? Melanie wollte heute Nachmittag mit Marlis Mathe üben und dann bei Ihnen übernachten.«
»Davon weiß ich nichts.«
»Die beiden sind ja in der letzten Zeit unzertrennlich, daher hab ich mir nichts weiter dabei gedacht, als Melanie sagte, sie wäre bei Ihnen.«
»Ich hab Melanie schon ewig nicht mehr gesehen.«
Jetzt schwieg Susanne und fragte schließlich mit schleppender Stimme: »Das heißt, sie hat also auch nicht vorgestern und auch nicht zweimal in der letzten Woche bei Ihnen übernachtet?«
»Nein, das hat sie nicht. Soll ich Ihnen vielleicht mal Marlis an den Apparat holen?«
»Ja, bitte«, flüsterte Susanne. Der Schmerz in der Brust war immer noch da.
Wenige Augenblicke später kam Marlis ans Telefon und sagte mit sehr heller, kindlicher Stimme: »Ja?«
»Marlis, ich bin Melanies Mutter. Melanie hat mir erzählt, sie würde bei dir übernachten, aber das war offensichtlich gelogen. Weißt du, wo sie ist?«
»Nee.«
»Hat sie einen Freund, bei dem sie sein könnte?«
»Glaub schon.«
»Du weißt es nicht genau?«
»Nee. Wir reden nich so viel miteinander.«
»Das heißt, du weißt auch nicht, wie der Freund heißen könnte?«
»Nee.«
»Aber in der Schule hat Melanie nicht gefehlt?«
»Nee. Sie war immer da.«
»Okay. Danke, Marlis.«
Susanne legte auf und sank auf einen Stuhl. Sie hatte Melanie immer vertraut. Nie im Leben wäre sie auf die Idee gekommen, dass ihre Tochter sie belügen könnte, wenn sie sagte, sie schlafe bei einer Freundin. Das war ja köstlich. Eine Kriminalbeamtin glaubte bedingungslos alles, was man ihr sagte. Ohne zu hinterfragen, ohne zu kontrollieren, ohne zu überprüfen. Bei der eigenen Tochter versagte jeder Kontrollmechanismus.
Aber wo war sie? Bei ihrem Vater sicher nicht. Sie sahen sich regelmäßig, wenn auch selten, hatten ein ganz gutes Verhältnis, und es gab keinen Grund, warum sie ihn heimlich besuchen sollte. Es musste ein Freund sein. Einer, von dem sie zu Hause nie etwas erzählt hatte.
Susanne spürte, wie Angst in ihr aufstieg. Sie war jetzt nicht mehr wütend, sondern fühlte sich völlig hilflos und wusste nicht, wie sie die Nacht durchstehen sollte, wenn Melanie nicht da war.
Zehn Minuten überlegte sie krampfhaft, was sie tun könnte. Alle aus Melanies Klasse durchtelefonieren, von denen sie eine Nummer hatte? Das war sinnlos. Melanie hätte nicht zu lügen brauchen, wenn sie bei einer anderen Freundin übernachtet hätte. In ihrer Klasse gab es keine Jungen, Melanie war auf einem reinen Mädchengymnasium. Susanne hatte geglaubt, das wäre entspannter, aber offensichtlich war das Gegenteil der Fall.
Die Polizei brauchte sie nicht zu rufen, die Polizei war sie selbst. Wie oft hatte sie schon Eltern beruhigt. Nach dem Motto, das sie sich jetzt einfach selbst einreden musste: Warten Sie vierundzwanzig Stunden. Bis dahin ist Ihre Tochter sicher wieder da. Höchstwahrscheinlich ist sie morgen ganz vergnügt in der Schule. Machen Sie sich jetzt nicht allzu viele Sorgen, spätestens morgen Nachmittag telefonieren wir wieder, und wenn sie bis dahin immer noch nicht aufgetaucht ist, sehen wir weiter.
Jetzt erst verstand sie wirklich, was Eltern durchmachten, die so eine Ansage bekamen. Aber sie musste unbedingt mit jemandem reden, die Stille in der Wohnung war unerträglich, daher rief sie ihren Assistenten Ben an.
»Ben, hör zu, du musst mir helfen«, sagte sie und bemühte sich um eine ruhige Stimme. »Melanie ist weg. Ich weiß nicht, wo sie ist, und ich bin kurz davor, wahnsinnig zu werden. Sie hat mir gesagt, sie übernachtet bei einer Freundin, aber da ist sie nicht.«
»Oh Mann!«, stöhnte Ben.
»Mehr fällt dir dazu nicht ein?«
»Was soll ich dir sagen? Soll ich dich beruhigen? Dir erzählen, dass du dir keine Sorgen machen sollst, sie wird
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