Nachtprinzessin
Saatwinkler Damm. Es war großes Pech für Manfred, dass die beiden anderen gerade beschäftigt waren und so niemand sah, zu wem er ins Auto stieg.
Also gab es auch beim zweiten Mord keine Zeugen – es war zum Verrücktwerden.
Im KaDeWe glaubte sich eine Verkäuferin an einen blonden Mann mittleren Alters zu erinnern, der einen teuren Seidenschal gekauft hatte, aber sicher war sie sich nicht. Und sie war auch nicht in der Lage, ihn genauer zu beschreiben.
Als Susanne vor ihrer Wohnungstür ankam, sah sie, dass Melanie eine Mülltüte in den Hausflur gestellt, aber dann doch nicht mit hinuntergenommen hatte, als sie das Haus verließ. Es war grauenvoll. Auf Melanie konnte man sich überhaupt nicht verlassen, und man musste ihr ständig hinterherräumen.
In der Wohnung zog Susanne die Schuhe aus und ließ sich als Erstes ein Bad ein. So konnte sie entspannen, und meist hatte sie in der Badewanne auch ihre besten Ideen. Der Briefkasten konnte noch eine halbe Stunde warten.
Melanie übernachtete schon wieder bei ihrer Freundin Marlis, das schien ja auf einmal die ganz große Liebe zu sein zwischen den beiden. Susanne konnte sich gut daran erinnern, dass Melanie noch vor einem halben Jahr gesagt hatte, Marlis sei doof wie Brot und ihren Eltern hörig. Was ja ab solut das Letzte sei. Und nun gluckten die beiden ununter brochen zusammen. Aber schließlich war es ja in ihrer Jugend nicht anders gewesen: Die dicksten Freundschaften zerbrachen wegen einer Nichtigkeit innerhalb von fünf Minuten, und ebenso schnell entstanden neue Bündnisse mit denen, die man vorher keines Blickes gewürdigt hatte.
Als sie in das angenehm warme und nach Lavendel duftende Badewasser stieg, wurde sie doch wehmütig. Wie schön wäre es gewesen, wenn Melanie jetzt hier wäre und ihr etwas von ihrem Tag erzählen könnte. Sie würden in der Küche sitzen wie zwei Freundinnen und Geheimnisse austauschen.
Aber Melanie lehnte ihre Freundschaft ab. Warum auch immer. Wahrscheinlich, weil es in diesem Alter uncool war, sich mit seiner Mutter zu verstehen. Sie musste einfach Geduld haben und es ertragen, fast jeden Abend allein zu sein.
Eine Dreiviertelstunde später saß sie im Bademantel am Küchentisch, aß Knäckebrot mit Käse und trank ein Glas Wein. Ihre Gedanken waren bei dem blonden Mörder, der vielleicht gerade jetzt in diesem Moment wieder auf den Straßen Berlins unterwegs war, um sein nächstes Opfer zu finden. Und sie hockte in ihrer Wohnung und konnte es nicht verhindern.
Vielleicht sollte sie jetzt erst einmal die Post holen. Sie ging in den Flur, wo neben der Tür in einem kleinen Schlüsselkasten ganz links normalerweise der Briefkastenschlüssel hing. Aber der Haken war leer. Natürlich. Sie hatte es auch nicht anders erwartet. Melanie hatte den Schlüssel mitgenommen und würde ihn sicher erst in ein paar Tagen, wenn überhaupt, wiederfinden.
Susanne wurde allmählich sauer. Erst der Müll vor der Tür und dann auch noch der Briefkastenschlüssel. Sie musste auf andere Gedanken kommen und sah in die Zeitung, ob es jetzt um kurz nach zehn noch irgendetwas Spannendes im Fernsehen gab. Eine Dokumentation über spektakuläre Kriminalfälle, die in fünf Minuten beginnen sollte, interessierte sie brennend, und sie suchte die Fernbedienung, um den Apparat einzuschalten. Aber sie war wie vom Erdboden verschluckt, lag nicht auf dem Fernseher, auch nicht auf dem Couchtisch, nicht auf dem Regal. Sie suchte in der Küche, in ihrem Zimmer, in Melanies Zimmer, sogar im Bad. Die Fernbedienung war weg. Ohne Fernbedienung war der Fernseher zwar direkt am Gerät einzuschalten, aber man konnte die Programme nicht wechseln.
Jetzt wurde Susanne richtig wütend. Wahrscheinlich hatte Melanie die Fernbedienung einfach gedankenlos in ihren riesigen Sack, den sie als Handtasche bezeichnete, zusammen mit Handy, iPod und tausend anderen Kleinigkeiten geworfen. Manchmal wischte sie auch einfach über den Tisch und fegte alles, was darauf lag, in ihre Tasche. So hatte sie auch schon Susannes Schlüsselbund und ihr heiliges Notizbuch im wahrsten Sinne des Wortes eingesackt und sich sogar noch aufgeregt, als sich Susanne beschwerte. »Meine Güte, nun stell dich nicht so an. Die Sachen sind ja nicht weg ! Es ist echt ätzend, dass du dich wegen jedem Mist aufregst und rummeckerst!«
Und nun war wieder so ein Fall, und Susanne dachte gar nicht daran, ihren Mund zu halten, und wählte Melanies Handynummer. Aber dort ertönte nur die monotone Ansage, es
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