Nachtprinzessin
wir verhören, ja sogar jeder unauffällige Familienvater Prinzessin sein kann.«
»Im Grunde wissen wir nichts«, sagte leise ein junger Beamter, der bereits die ganze Zeit Zigaretten auf Vorrat drehte.
»So ist es.« Susanne rieb sich die Hände, was kein Zeichen von Tatendrang, sondern von Resignation war. »Da haben Sie völlig recht. Und alles, was ich gesagt habe, ist reine Spekulation. Eine Vermutung. Hypothetisch. So wie ich mir aufgrund der wenigen Indizien den Mörder vorstelle. Aber natürlich kann er auch ganz anders sein. Vergessen Sie das bitte nie. Bei allem, was Sie in den nächsten Tagen und Wochen tun. Irgendwann wird er einen Fehler machen, oder er wird uns eine noch deutlichere Visitenkarte hinterlassen, weil er es einfach nicht mehr aushält und gefasst werden will. Aber auch das ist nur eine Hoffnung.« Susanne lächelte. »Ich glaube, unser Täter geht nicht davon aus, jemals geschnappt zu werden, daher glaubt er, sich alles erlauben zu können. Ich warte darauf, dass er mit uns zu spielen beginnt, denn das ist unsere einzige Chance.«
Sie packte demonstrativ ihre Unterlagen in ihre Tasche.
»Alle Ermittlungsergebnisse, jede noch so nebensächlich erscheinende Winzigkeit, landen bitte auf meinem Schreibtisch. Bei mir laufen alle Fäden zusammen, und wir treffen uns hier am Freitag wieder. Um die gleiche Zeit. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.«
Zwanzig Minuten später trabte sie bereits durch den Park. In ihrem Spind im Präsidium hatte sie immer Leggings, T-Shirt, Trainingsjacke und Laufschuhe deponiert, und wenn sie nicht mehr weiterwusste oder wenn sie spürte, dass die aufsteigenden Aggressionen ihr die Luft abschnürten, rannte sie los. Ihr Handy hatte sie ausgeschaltet, und sie hörte keine Musik. Nur ein winziges Diktafon steckte in ihrer Jackentasche. Für den Fall, dass ihr irgendetwas Wichtiges einfiel.
Ihre Gedanken rasten. Noch nie während ihrer Zeit als leitende Kommissarin hatte sie einer Soko, die sie leitete, weder Fakten noch Ermittlungsergebnisse mitteilen können. Es war frustrierend. Sie hatte psychologische Schulweisheiten von sich gegeben, die sie auf einem Profiler-Lehrgang in Bad Salzuflen gelernt und abgespeichert hatte. Eigentlich hatte sie eine Weiterbildung zur Profilerin machen wollen, aber als sie die Möglichkeit hatte, zur leitenden Kommissarin der Mordkommission aufzusteigen, hatte sie die zusätzliche Ausbildung bereits nach einem halben Jahr wieder abgebrochen. Dennoch war ihr das wenige, was sie über Serientäter und ihre Motivation erfahren hatte, auch in ihrem normalen Polizeialltag hilfreich.
Sie lief schneller. Trotz ihrer inneren Erschöpfung rannten ihre Beine wie ferngesteuert, und ihre Lunge lief zur Höchstleistung auf und pumpte kraftvoll den Sauerstoff durch ihren Körper. Sie spürte, dass sie zu schwitzen begann, und ihre Wangen glühten.
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In den darauffolgenden Tagen stürzte sich Susanne in die Arbeit, war ungeduldig und nervös und scheuchte ihre Kollegen. Dabei versuchte sie Zuversicht zu verbreiten, obwohl sie selbst nicht daran glaubte. Die Soko arbeitete auf Hochtouren, aber die entscheidende Spur war immer noch nicht dabei.
Als Susanne an diesem Abend ihr Haus betrat, sah sie, dass der Hausbriefkasten prallvoll war. Also würde sie noch einmal hinuntergehen und ihn leeren müssen.
Sie seufzte und stieg die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf. Es war erst kurz vor neun, aber sie fühlte sich, als ob sie die ganze Nacht durchgetanzt hätte. Fast zwölf Stunden war sie – wie fast jeden Tag – im Büro gewesen, hatte Unmengen von Kaffee getrunken und drei Käsebrötchen gegessen. Ihr Herz raste. Ich bin nicht mehr fit, dachte sie, ich muss irgendetwas tun. Einen langen Urlaub und währenddessen kontinuierliches, leichtes Training. Aber daran war im Moment überhaupt nicht zu denken.
Susanne Knauer war zwar schlank und sah sehr sportlich aus, aber an diesem Abend merkte sie deutlich, wie sich müde Knochen anfühlten.
Ihr Assistent Ben hatte darum gebeten, den Nachmittag freizubekommen, er musste zur Zulassungsstelle, um sein neues Auto anzumelden, und hatte – wie er sagte – noch jede Menge zu erledigen. Um vierzehn Uhr war er gegangen, und sie hatte weiter über den Akten gebrütet.
Manfred Steesen war als Stricher bekannt und bevorzugte als Arbeitsgebiet eher verschwiegene Parks als offene Straßen. In der Nacht, in der er ermordet wurde, arbeiteten drei junge Männer an der Ecke Jungfernheideweg und
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