Nachtprinzessin
Hauptschule nicht geschafft und wohnte als ältester von fünf Geschwistern offiziell noch bei seinen Eltern. Er war viel unterwegs, und seine Eltern lebten in der Annahme, er hätte hin und wieder Arbeit und eine Freundin. Beides war nicht der Fall. Manfred ging anschaffen, war aber relativ genügsam, beklagte sich nie und tat für seine kleinen Geschwister, was er konnte. Manfreds Mutter Ilona ist eine ängstliche, misstrauische Frau, die sich ständig um ihre Kinder sorgt und Gedanken macht. Nur um Manfred hatte sie nie Angst. ›Der kommt schon zurecht‹, hat sie immer gesagt, ›wenn es einen gibt, der sich durchboxt und nicht unterkriegen lässt, dann ist es Manfred.‹
Wenn man sich mit ihr unterhält, hat man fast das Gefühl, die wahre Katastrophe für diese Frau ist nicht der Tod ihres Sohnes, sondern die Tatsache, dass sie sich getäuscht hat.«
»Gibt es irgendeine Verbindung zwischen den beiden Opfern?«
»Nein. Keine. Nicht die geringste. Bis auf die Tatsache natürlich, dass beide in Berlin lebten, haben wir keine Zusammenhänge oder Schnittpunkte gefunden. – Aber nun zu dem Seidenschal. Der Mörder hat das Mordwerkzeug beim zweiten Mal am Tatort zurückgelassen. Es handelt sich um ein reinseidenes, teures Produkt, das knapp zweihundert Euro kostet. Wir werden sämtliche Geschäfte aufsuchen, die solche Seidenschals führen. Das ist zeitaufwendig und mühsam, aber vielleicht kann sich irgendein Verkäufer daran erinnern, an wen er so ein exklusives Teil verkauft hat. Das passiert sicher nicht alle Tage.«
Sie fühlte sich plötzlich so unendlich müde und ausgelaugt. Am liebsten hätte sie sich auf dem Schreibtisch ausgestreckt und geschlafen. Wollte nur noch raus aus diesem Raum, um draußen an der frischen Luft eine halbe Stunde spazieren zu gehen, um vielleicht eine Idee zu bekommen, wie man bei diesem Fall weitermachen konnte.
»Das Problem ist, dass es keinen einzigen Zeugen gibt«, sagte Ben mit seiner ruhigen, melodiösen Stimme. »Niemand hat einen Fremden in Jochen Umlaufs Mietshaus gesehen, niemand hat in der Nacht am See etwas beobachtet und könnte uns wenigstens eine vage Beschreibung geben. Wir haben noch nicht mal ein Strichmännchen als Phantombild und können so also auch nicht durch die Schwulenkneipen ziehen oder uns an den einschlägigen Schwulentreffs durchfragen.«
Einige lachten leise.
»Die Frage ist also: Wie gehen wir weiter vor?« Susanne musste sich unheimlich zusammenreißen. Sie war sich sicher, dass jeder ihr ansah, wie schlapp und unkonzentriert sie war.
Niemand meldete sich.
»Verflucht noch mal!« Ben schlug mit der Faust auf den Tisch, und seine Verzweiflung war deutlich. »Wir können doch nicht einfach hier rumhängen und darauf warten, dass er wieder zuschlägt und vielleicht einen Fehler macht!«
»Es hilft nichts, wenn du hier rumbrüllst!«, zischte Susanne. Sie schloss einen Moment die Augen und fuhr sich über die Stirn. Dann sprach sie weiter: »Er ist eitel. Geltungssüchtig. Er hinterlässt uns eine Visitenkarte. Schreibt uns sein Kosewort in den Sand. Prinze. Wir gehen davon aus, dass er Prinzessin geschrieben hat. Ich bitte, über diese Information absolutes Stillschweigen zu bewahren. Kein Wort davon an die Presse. Sonst haben wir irgendwann lustige Trittbrettfahrer, die die halbe Stadt mit dem Wort Prinzessin vollschmieren. Und das wäre fatal.«
Das allgemeine Gemurmel, das Susanne hörte, klang zustimmend, und sie setzte ihren Vortrag fort.
»Er will beachtet werden. Wahrscheinlich ist dieser Name eine neue Erfindung, deswegen hat er ihn uns auch beim ersten Mal noch nicht hinterlassen. Es ist nur eine Vermutung, sicher, aber ich könnte mir vorstellen, dass er diese Bezeichnung, die er offensichtlich für sich als sehr treffend und passend einordnet, wieder in irgendeiner Form hinterlässt, sollte er weitermorden. Wir suchen also eine Prinzessin. Empfindlich, eingebildet, zartbesaitet und pedantisch. Er hält sich für was Besseres. Spürt diese weibliche Ader in sich, kokettiert aber damit nur. Wenn es darauf ankommt, ist er eiskalt und brutal. Eine mordende, gewalttätige Prinzessin: Das findet er ungeheuer erregend. Er kann seine Homosexualität perfekt verstecken und begegnet uns als ganz normaler Mann. Nur wenn er ein Opfer sucht, legt er tuntige Verhaltensweisen an den Tag, um einen Gleichgesinnten auf sich aufmerksam zu machen. Wir müssen darauf gefasst sein, dass jeder Verdächtige, mit dem wir es zu tun bekommen, jeder, den
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