Nachtprinzessin
Tode.
Am Nachmittag hielt er es nicht mehr aus. Trotz brütender Hitze setzte er sich ins Auto und fuhr hinauf nach Giglio Castello. Mittlerweile gingen ihm jedes Haus, jede Straße, ja sogar der atemberaubende Ausblick auf die Nerven.
Und wieder hielt er direkt an der Stadtmauer, wo er vor Kurzem noch überlegt hatte, sich in seliger Verliebtheit in den Tod zu stürzen. Wegen eines primitiven Verbrechers, wie er jetzt wusste, der selbst nichts anderes als den Tod verdient hatte.
Er setzte sich auf die Mauer und sah in die Ferne. Das Meer war tiefblau und spiegelglatt, und er wünschte sich, die Schönheit und Größe dieses Momentes mit irgendjemandem teilen zu können. Mit einem Adriano, der es wert gewesen wäre, oder mit seinem Sohn. Allein war es nichts wert.
Hier oben, am höchsten Punkt der Insel, hatte sein Handy Empfang.
Als Erstes wählte er Alex’ Nummer, und obwohl er überhaupt nicht damit gerechnet hatte, war der sofort am Apparat.
»Ja?«
»Hei, Alex. Ich bin’s. Wie geht’s?«
»Geht so.«
»Was machst du?«
»Nichts.«
»Wie geht’s Oma?«
»Keine Ahnung. War noch nicht da.«
»Wann gedenkst du endlich mal hinzugehen?«
»Wenn ich Zeit hab.«
Für ein derart unerfreuliches Telefonat brauche ich aus Italien keine Unsummen zu bezahlen, dachte Matthias und legte einfach auf.
Dann wählte er die Nummer der Reha-Klinik.
Er vertelefonierte vier Euro fünfundsiebzig, bis er den behandelnden Arzt am Apparat hatte.
»Wie geht es ihr?«, fragte Matthias.
»Ein klein wenig besser«, meinte der Arzt.
»Inwiefern?«
Der Arzt zögerte. »Sie hat angefangen zu sprechen.«
»Aber das ist doch fantastisch!«, brüllte Matthias und wäre am liebsten singend und tanzend auf der Stadtmauer balanciert. »Das ist eine Sensation! Und da sagen Sie: Ein klein wenig besser?!«
»Nun ja. Wir sehen das genauso wie Sie, aber …«
»Was aber?«
»Gehen Sie jetzt bitte nicht davon aus, dass Sie sich mit ihr unterhalten können. Sie reagiert nicht auf Fragen, und sie antwortet auch nicht. Alles, was sie sagt, ist völlig zusammenhanglos. Manchmal sagt sie nur ein einziges Wort am Tag, manchmal sind es ganze Sätze, oder sie erzählt eine kleine Geschichte. Aus der Vergangenheit oder aus ihrer Fantasie, jedenfalls vollkommen wirr.«
»Egal. Es ist ein Fortschritt.«
»Da haben Sie recht.«
Matthias schwieg. Er wusste vor lauter Freude nicht mehr, was er sagen sollte.
»Wie lange sind Sie noch auf Reisen?«, fragte der Arzt schließlich. »Es wäre gut, wenn Sie hier wären.«
»Ich brauche noch drei Wochen.«
Der Arzt seufzte genervt und machte dadurch deutlich, dass er dafür keinerlei Verständnis hatte.
»Was für Worte sagt sie?«
»Halleluja zum Beispiel.«
»Hm.«
»Kommen Sie und helfen Sie ihr, ein bisschen Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich habe zu tun.«
Damit legte der Arzt auf.
Matthias wusste, dass er dringend nach Hause musste. Aber es war unmöglich.
In den nächsten Tagen blieb er im Hafen. Spaziergänge konnte er nicht ertragen, denn man blickte auf der Insel überall von den Bergen, Felsen oder Klippen hinunter aufs Meer.
Vormittags um zehn oder elf verließ er seine Wohnung, ging dreihundert Meter am Hafen entlang, was er als Morgenspaziergang bezeichnete, kaufte sich eine Zeitung und trank in einer Bar seinen Morgenkaffee. Anschließend besorgte er sich Obst fürs Mittagessen und zog sich auf seinen Balkon zurück. Jetzt wurde es schwer, die Zeit bis zum Abend totzuschlagen.
Um neunzehn Uhr nahm er in der Bar direkt unter seinem Balkon einen Aperitif und betrat dann um Punkt acht das Restaurant. Von Luigi, dem Wirt, erfuhr er täglich, was die Ermittlungen der Polizei ergeben hatten. Und dies war der Moment, an dem sich jeden Abend seine Laune besserte. Denn die Carabinieri hatten nicht die geringste Ahnung, was sich an jenem Tag auf den Klippen abgespielt hatte.
»Ich bin mir absolut sicher, dass die beiden Selbstmord begangen haben«, sagte er.
Luigi nickte. »Das glauben wir hier alle.«
»Aber wenn es wirklich einen Mörder geben sollte, dann werden sie ihn auch kriegen.«
»Natürlich. Das ist doch selbstverständlich.« Luigis Glaube an die Fähigkeiten der italienischen Polizei war unerschütterlich. Er schenkte Matthias noch einmal Wein nach und ging dann in die Küche, weil der Koch geklingelt hatte.
Ein riesiges Problem waren immer noch seine verdreckten und blutigen Kleidungsstücke in den Müllbeuteln, die er
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