Nachtprinzessin
dachte Neri, und sein Telefon klingelte erneut.
»Carabinieri Ambra«, meldete er sich diesmal ganz offiziell.
»Dein Sohn zieht aus«, meinte Gabriella kühl. »Die Klamotten stehen schon im Flur. Mehr als zehn Minuten braucht er nicht mehr, dann ist er weg. Vielleicht willst du noch Ciao sagen.«
Diesmal legte sie auf.
Neri war wie vom Donner gerührt und stand auf.
»Mi scusi, Signora, aber ich muss weg. Ein Notfall. Ich komme später noch einmal zu Ihnen. Sehen Sie doch schon mal nach, was alles gestohlen wurde.«
Damit ließ er die verdutzte Clara in der Küche zurück und rannte fast aus dem Haus.
Als Neri zu Hause eintraf, sah er gerade noch, wie Gabriellas Wagen auf die Hauptstraße in Richtung Siena einbog.
»Porcamiseria!«, schrie Neri, schlug vor Wut mit der flachen Hand auf das Steuerrad und tat sich dabei empfindlich weh. Dann knallte er das Blaulicht aufs Autodach, schaltete das Signal ein und raste seiner Frau hinterher.
Da hatte er die Rechnung allerdings ohne Gabriella gemacht. Bisher war es ihm immer ein Leichtes gewesen, Wagen einzuholen, die bei Rot über die Ampel oder mit achtzig durch die Ortschaft gedonnert waren, aber das waren Bauern im schrottreifen Fiat, die sich leicht durch ein Blaulicht einschüchtern ließen und irgendwann kampflos rechts ranfuhren – Gabriella war da ein ganz anderes Kaliber. Mit großer Wahrscheinlichkeit war ihr vollkommen klar, wer sie da einzuholen versuchte, und jetzt machte sie sich einen Heidenspaß aus der innerfamiliären Verfolgungsjagd.
Sie schnitt die Kurven und schleuderte, dass Neri angst und bange wurde. Wenn sie so weitermacht, zieht Gianni nicht nach Siena, sondern geradewegs auf den Friedhof, dachte Neri und wurde immer wütender.
Kurz vor Pietraviva hatte sie Glück und überholte auf gerader Strecke einen Laster mit Anhänger, Neri hatte dazu keine Gelegenheit mehr und fiel zurück. Der Lastwagenfahrer reagierte auf das Martinshorn hinter ihm überhaupt nicht. Wahrscheinlich war er blind und taub und hatte auch noch nie in seinem Leben in einen Rückspiegel geguckt.
Neri hatte keine Chance. Er stellte sich vor, wie Gabriella jetzt zufrieden vor sich hin grinste, ein fröhliches Liedchen pfiff und dazu mit den Fingern den Rhythmus aufs Lenkrad trommelte.
Nein, so nicht. Nicht mit ihm. Er hatte keine Lust, sich länger zum Affen zu machen, stellte das Blaulicht ab und drehte auf einem Feldweg um.
Sollten sie doch fahren, wohin sie wollten. Es war ihm egal. Und wenn Gianni es nicht für nötig hielt, sich von seinem Vater zu verabschieden, wie es sich gehörte, dann konnte er ihn mal kreuzweise. Er würde ihm jedenfalls nicht hinterherrennen. Es war wahrscheinlich überall auf der Welt so, dass die lieben Kinder nur dann ein freundliches Wort über die Lippen brachten, wenn sie dringend etwas brauchten.
Langsam fuhr er zurück nach Hause. Ihm war schlecht vor Hunger, daher wollte er erst ein paar Happen essen, bevor er wieder ins Büro ging. Er war äußerst gespannt, ob ihm die liebe Familie überhaupt etwas übrig gelassen hatte. Ein paar Brocken, die keiner mehr mochte und die man dem Hofhund oder Neri vorsetzen konnte.
Zum Teufel auch mit der Witwe Carmini. Er würde heute Abend noch mal vorbeischauen, oder morgen. Es hatte ja keine Eile, denn Neri ging davon aus, dass sich die alte Dame den Einbruch sowieso nur eingebildet hatte.
Es war allgemein bekannt, dass die Witwe ihre magere Rente nur in Grappa umsetzte, und wer bei ihr einbrach, musste verrückt sein, weil es außer Hundefutter und Häkeldeckchen absolut nichts zu holen gab.
Als er sein Haus betrat, saß Oma im Wohnzimmer am Fenster und starrte auf die Straße. Ihr Mittelfinger zuckte nervös hoch und runter, als würde sie auf einer imaginären Tastatur immer wieder ungeduldig einen einzigen Buchstaben antippen.
»Er ist weg«, flüsterte sie. »Verflucht noch mal, er wohnt nicht mehr hier. Jetzt stirbt das ganze Haus aus.«
»Er ist erwachsen, Oma, in seinem Alter ist es normal, wenn man auszieht.«
»Ach was.« Sie sah ihren Schwiegersohn wütend an. »Red nicht so dummes Zeug! Du hast ihn rausgeekelt.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Ich hab doch Augen im Kopf.«
Das hatte ihr also Gabriella eingetrichtert. Es war immer dasselbe: Ganz egal, was in diesem Hause geschah, Neri war grundsätzlich an allem schuld. Allmählich ging ihm das auf die Nerven.
Wortlos verließ er das Zimmer. In der Küche fand er im Kühlschrank lediglich einen kleinen Teller mit
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