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Nachtprinzessin

Nachtprinzessin

Titel: Nachtprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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zwei Tage alter Pasta, einen halben Salatkopf und einen Kanten eingetrockneten Pecorino. Es widerte ihn alles an. Er trank nur einen Viertelliter eiskalte Milch und machte sich auf den Weg zurück ins Büro. Er wollte Oma nicht noch einmal begegnen und sehnte sich richtig nach seiner stillen Amtsstube, wo ihm wenigstens niemand Vorwürfe machte.
    Als er schließlich wieder am Schreibtisch saß und seine Bleistifte anspitzte, dachte er an Gianni. Der Vogel, der flügge ist, fliegt davon. So ist das. Im Haus würde es leerer werden, es wohnte dort kein Kind und kein Jugendlicher mehr, Gianni kam eben nur noch zu Besuch.
    Neris Herz krampfte sich zusammen. Das ist doch wunderbar, versuchte er sich in Gedanken zu beruhigen, das hast du dir doch immer gewünscht: kein Gemecker mehr, weil kein Bier im Kühlschrank war, keine Turnschuhe auf der Treppe und keine dreckigen Socken in der Obstschale im Flur. Niemand benutzte mehr seinen Rasierapparat, niemand schlurfte nachmittags um vier völlig verschlafen durchs Haus, niemand bedröhnte sich stundenlang mit nervtötender Musik. Kein schlecht gelaunter, schweigender Sohn mehr am Esstisch und keine Sorgen mehr, wenn er nachts um drei immer noch nicht zu Hause war. Und kein Streit mehr wegen Gianni mit Gabriella.
    Paradiesische Zustände. Frieden.
    Und plötzlich hatte Neri Angst davor.
    Giannis Wohnung war eigentlich keine Wohnung, sondern ein dunkles Loch. Ein schmaler Schlauch von ungefähr fünfzehn Quadratmetern mit einem einzigen Fenster zu einer nur zwei Meter breiten Gasse, in die nie ein Sonnenstrahl gelangte. Im Zimmer war es so dunkel, dass man es ohne Licht gar nicht besichtigen konnte. Es war mit einem Bett, einem Schrank, Tisch und Stuhl notdürftig möbliert, eine Küche fehlte, links neben der Eingangstür gab es lediglich eine Nasszelle mit Toilette, Dusche und Waschbecken. Die Wohnung war heruntergekommen und seit über zwanzig Jahren nicht mehr renoviert worden.
    »Herzlich willkommen in meinem neuen Zuhause, Mama«, sagte Gianni und grinste.
    Gabriella hatte es wahrhaftig die Sprache verschlagen. Das war die fürchterlichste Unterkunft, die sie je gesehen hatte, und es brach ihr fast das Herz, wenn sie sich vorstellte, dass ihr Sohn jetzt einziehen und seine Tage, Abende und Nächte hier verbringen sollte.
    »Hier gibt es ja noch nicht mal eine Heizung«, stotterte sie.
    »Das macht nichts. Im Winter stelle ich mir einen kleinen Elektroheizer rein, das Zimmer wird bestimmt schnell warm, außerdem bin ich hier durch die umliegenden Wohnungen so eingebaut, da kann es gar nicht richtig kalt werden.«
    Gabriella öffnete das Fenster. Das Haus gegenüber war so nah, dass man dem Nachbarn sicher die Hand geben konnte, wenn man sich weit genug vorbeugte.
    »Soll ich dir für das Fenster eine Gardine nähen?«, flüsterte sie. »Hier kann dir ja jeder problemlos auf den Teller gucken!«
    »Ich werde ein Rollo oder eine Jalousie anbringen. Gardinen kann ich nicht ausstehen. Nun guck nicht so entsetzt, Mama, ich finde das Zimmer okay. Fürs Erste völlig ausreichend. Und schließlich kostet es nur dreihundert Euro. Mehr hab ich nicht.«
    »Du kriegst doch was von uns …«
    »Ich will nichts von euch, ich habe einen Job und werde schon klarkommen.«
    Gabriella riss die Augen auf. »Was denn für einen Job?«
    »Bei der Stadt. Ich werde Fremdenführungen übernehmen. Siena-Rundgänge. Eine Führung dauert zwei Stunden, dafür krieg ich vierzig Euro, ich mach drei am Tag, dreimal die Woche. Alles easy. Ich muss nur diesen ganzen Schmus über die Medici und so auswendig lernen.«
    Gabriella überschlug Giannis Verdienst im Kopf. Das waren gut eintausendvierhundert Euro. »Dafür kannst du dir doch eine bessere Wohnung leisten! Und wenn wir dir noch was dazugeben?«
    »Lass mal, Mama, das passt schon.« Damit war für Gianni die Wohnungsdiskussion beendet.
    Während sie ein paar Koffer und Taschen nach oben schleppten, überlegte Gabriella: Der Job war nicht schlecht. Gianni hatte mit Menschen zu tun und würde viele unterschiedliche und sicher auch interessante Leute kennenlernen. Und vielleicht auch endlich eine Freundin finden.
    Beim anschließenden Mittagessen in einer Osteria sah sie ihren Sohn an, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Sein langes, schwarzes Haar band er seit ein paar Monaten mit einem Gummiband hinten im Nacken zusammen. Er hatte ihre schmale Nase und Neris ausgeprägte Wangenknochen geerbt, seine dunklen Augen waren unergründlich und konnten einen

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