Nachtprinzessin
sowohl zornig als auch liebevoll ansehen.
Gianni war ein verdammt gut aussehender Junge, was ihr bisher noch gar nicht so aufgefallen war. Vielleicht, weil sie ihn nur noch in Boxershorts kannte, wenn er verschlafen im Kühlschrank herumwühlte.
Jetzt war der Moment gekommen, wo sie ihn sich selbst überließ, allein in der Stadt. Das beschauliche Ambra war Vergangenheit.
Aber er würde seinen Weg machen, da war sie sich ganz sicher.
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Berlin, Juli 2009
Der Wecker klingelte um Viertel vor fünf. Alex stöhnte und warf sich auf die andere Seite, um noch ein paar Minuten zu entspannen. Das war der Moment, wo er sein ganzes Dasein verfluchte und sich nichts weiter wünschte, als einfach einzuschlafen und nie wieder aufzuwachen. Aber das war ihm bisher noch nicht gelungen, ganz gleich wie viel Alkohol er am Abend vorher in sich hineingeschüttet hatte.
In zehn Minuten versuchte er, so tief zu entspannen, dass es ein paar Stunden wettmachen würde, aber schon klingelte der nächste Wecker auf dem Regal, oberstes Fach vor den DVD s von »Stirb langsam«, Teile eins bis vier.
Er war schweißnass, als er sich aus dem Bett quälte und den verdammten Wecker abstellte.
Mittlerweile konnte er wieder einigermaßen laufen, nur wenn er stundenlang am Herd stand – was jeden Tag der Fall war –, kamen die Schmerzen, und das Bein schwoll an.
Er ging auf die Toilette, band sich einen Müllsack um das eingegipste Bein, duschte, trank als Frühstück einen Schluck lauwarmes Duschwasser und putzte sich die Zähne, während das warme Wasser über seinen Rücken floss. Vor drei Tagen war der Techniker der Heißwassertherme gekommen und hatte lediglich einen Wärmefühler im Wert von zwei Euro fünfundsiebzig ausgetauscht. Außerdem hatte Alex noch dreißig Euro Anfahrtkosten und fünfzehn Euro für die ungeheure Arbeit des Einsetzens eines neuen Wärmefühlers bezahlt, aber er fasste sich dennoch nachträglich an den Kopf, warum er wochenlang ohne heißes Wasser gelebt hatte.
Zügig trocknete er sich ab, zog sich an und verließ sein Loft.
Es war jetzt zwanzig nach fünf.
Als er aus dem Haus trat, ging gerade die Sonne auf. Sie blinzelte orangefarben über die Häuser und versprach wieder einmal einen schönen Tag.
Es war selten, dass er überhaupt registrierte, ob es kalt oder warm, Morgen oder Abend, Sommer oder Winter war. Er erlebte keine Jahreszeiten und im Grunde auch keine Tageszeiten mehr. Wenn er zur Arbeit aufbrach, war er meist so kaputt und müde, dass er ganz automatisch ging, ohne zu denken und ohne etwas zu spüren. Ob es schneite oder regnete, interessierte ihn schon lange nicht mehr. Er besaß eine einzige Jacke, die er das ganze Jahr über anzog: im Sommer, wenn es kühl war, aber auch im Winter, wenn der Dauerfrost minus fünfzehn Grad erreichte.
Je nachdem, ob er Früh- oder Spätschicht hatte, verschwand er im Hotel, arbeitete sechzehn Stunden und schleppte sich dann nach Hause. Betäubte sich mit Alkohol und schlief bis zum nächsten brutalen Weckerklingeln und bis zum nächsten lauwarmen Schluck aus der Dusche.
Das war sein Leben.
Seit Jahren.
Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal den Himmel gesehen oder bewusst den ziehenden Wolken nachgeschaut hatte.
Aber heute Morgen hielt er inne, als er den Sonnenaufgang bemerkte, und musste an seinen Vater denken, der jetzt irgendwo in Italien war, ausschlafen konnte, solange er wollte, um sich dann bei einem Prosecco in die Sonne zu setzen und den Tag zu genießen.
Es machte ihn schon wieder wütend, und er lief los. Schneller als sonst.
Um Viertel vor sechs war er fertig umgezogen in der Küche, und er war – wie immer – der Erste.
Die Küche war tadellos aufgeräumt, und man sah ihr nicht an, welche Schlachten dort jeden Tag ausgetragen wurden. Die Arbeitsplatte wirkte blitzblank, aber der Schein trog.
Spüler Ali war ein armes Schwein. Arbeitete für drei Euro die Stunde, ernährte damit eine fünfköpfige Familie und zweigte außerdem Geld ab, das er nach Tunesien schickte. Ali schrubbte den ganzen Tag schwere Pfannen und Töpfe, ohne Pause, ohne etwas zu essen und zu trinken. Die Köche konnten wenigstens das eine oder andere kosten und tranken lauwarmes Bier.
Nach zwölf Stunden ließen Alis Kräfte nach, nach vierzehn Stunden konnte er kaum noch eine Pfanne heben, er kippte vor Hunger fast aus den Latschen. Normalerweise musste er für sein Essen bezahlen und gönnte sich meist nur ein belegtes Brötchen, aber die Köche
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