Nachtruf (German Edition)
Wimperntusche hatte schwarze Rinnsale gebildet, die auf den Wangen getrocknet waren. Eine Schnittwunde am Hals der Toten wies auf ein schnelles Verbluten hin, und der nackte Körper offenbarte mehr als ein Dutzend weiterer Schnittwunden. Aber eines war seltsam. Der Leichnam war blutüberströmt, doch auf dem Betonboden darunter fanden sich nur wenige Blutspuren. Offenbar hatte der Mord woanders stattgefunden.
„Die Leute von der Gerichtsmedizin haben sie vorhin umgedreht. Es gibt bläuliche Hautverfärbungen. Die Körpertemperatur der Verstorbenen deutet darauf hin, dass der Tod vor ungefähr drei bis fünf Stunden eingetreten ist.“ McGrath kratzte sich an der Nase. „Ach ja. Sie hat ein Tattoo am unteren Ende der Wirbelsäule. So ein verschnörkeltes Kreuz.“
„Eines ist mal sicher.“ Thibodeaux schrieb rasch etwas in sein Notizbuch. „Die Farbe von Kopf- und Schambehaarung passt nicht zusammen.“
Behutsam strich Trevor dem Mädchen das leuchtend rote Haar aus der Stirn. Die Farbe sah unnatürlich aus; das Haar war definitiv gefärbt. Dennoch erinnerte der Farbton ihn an Rain. Er betrachtete den restlichen Körper. Der rechte Handrücken des Opfers fesselte seine Aufmerksamkeit.
„Weiß jemand, was das ist?“ Auf der fast transparenten Haut über den zarten Knochen war ein Tintenfleck zu sehen. Es war der Umriss eines fliegenden Vogels, auch wenn das Bild verschmiert und nicht gut zu erkennen war.
„Die Gerichtsmedizin hat davon schon ein Foto gemacht“, sagte Thibodeaux. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass das ein Eintrittsstempel vom Ascension ist. Als ich noch bei der Sitte war, hatten wir dort öfter wegen Drogen zu tun. Daher erkenne ich das Zeichen.“
„Ecstasy?“
„Unter anderem. Das ist wahrscheinlich auch der Ort, wounser Opfer auf Dracula getroffen ist.“
„Ein Gothic-Club?“ Trevor betrachtete den verwischten Stempelabdruck.
„Ja, aber er gehört nicht zu den Läden, die Simone Bausell glaubt mit der kleinen Seagreen besucht zu haben.“ Ächzend brachte McGrath seinen Leibesumfang in eine aufrechte Position. „Womit wir einen weiteren Nachtclub auf dem Schirm hätten.“
Trevor bat einen der Kriminaltechniker um eine Beweismitteltüte. Vorsichtig schob er den Plastikbeutel über die Hand der Toten und versiegelte ihn. „Wer hat den Leichenfund gemeldet?“
Thibodeaux holte eine Packung Marlboros und ein Feuerzeug aus seiner Tasche und schüttelte eine Zigarette aus der Schachtel. „Ein Wachmann war gerade hier in der Gegend auf Streife und bemerkte die aufgebrochene Tür. Er beschloss, einen Blick hineinzuwerfen …“
„Tibbs, musst du eigentlich immer rauchen, wenn ich in deiner Nähe bin?“, warf McGrath ein. „Du weißt, dass ich damit aufgehört habe.“
„Und du besitzt keinerlei Willenskraft.“ Thibodeaux zündete sich die Zigarette an und inhalierte zufrieden den Qualm. „Betrachte mich als abschreckendes Beispiel.“
McGrath ging nicht weiter auf die Bemerkung seines Partners ein. „Jedenfalls hat dieser Sicherheitsmann sich gerade neben dem Dock die Seele aus dem Leib gekotzt, als wir hier eingetroffen sind. Wir werden gleich mit ihm reden.“
Trevor kniete immer noch neben dem Leichnam, als die zwei Detectives losgingen.
„Trevor?“
Er blickte auf und bemerkte einen hochgewachsenen, durchtrainierten Mann in Kakihose und Golfshirt, der ihn angrinste. Sawyer Comptons blondes Haar war so kurz geschnitten, dass es vom Kopf abstand. Selbst in dem grellen Licht der Scheinwerfer behielt seine Haut einen goldenen Ton, der eher an einen Surfer aus Kalifornien denken ließ, als an einen stellvertretendenBezirksstaatsanwalt im Orleans Parish . Nach all den Jahren erkannte Trevor ihn auf Anhieb. Er stand auf und schüttelte Sawyer ungeachtet der Latexhandschuhe herzlich die Hand.
„Annabelle sagte, du wärst in der Stadt. Aber mir war nicht klar, dass das mit deinem Job zu tun hat.“ Sawyer lächelte seinen Freund aus Kindertagen an. „Schon lange hier?“
„Ein paar Tage.“
Sawyer betrachtete das tote Mädchen. „Also, was ist hier los, Trev? Und warum interessiert sich das FBI für diese Sache?“
Trevor antwortete mit einer Gegenfrage. „Kreuzt der stellvertretende Bezirksstaatsanwalt hier immer mitten in der Nacht am Tatort auf?“
„Nur wenn ich Anrufe von Reportern erhalte, die auf der Jagd nach Informationen sind.“
Es war nicht ungewöhnlich, dass ein Streifenpolizist, der am Tatort arbeitete, sich ein paar Dollar dazuverdiente,
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