Nachtruf (German Edition)
Er betrachtete Rains aufgewühlten Gesichtsausdruck und brachte es nicht übers Herz, sie länger zurechtzuweisen. Festzustellen, dass sie Rebecca Belknap tatsächlich gekannt hatte, war für sie offensichtlich ein Schock gewesen – vielleicht ein größerer, als er gedacht hätte.
„Sie haben bereits Fotos der beiden Opfer in New Orleans gesehen“, erklärte er. „Die Chance, dass Sie eines der Opfer in den anderen Städten kennen …“
„Bitte.“
Er nahm sich die Zeit, ein T-Shirt überzuziehen. Dann ging er zu dem Tisch am Fenster und nahm eine dicke Akte zur Hand, die neben seinem Laptop lag.
„Einige Aufnahmen sind ziemlich verstörend“, warnte er sie und reichte ihr die Unterlagen.
„Wie viele Opfer gibt es insgesamt?“
„Sechs. Jedes in einer anderen Stadt, mit Ausnahme der beiden letzten. Wir denken, dass der Täter irgendeinen Job hat, der Reisen erfordert. Das würde erklären, warum die Morde geografisch so verstreut sind.“
Rain öffnete die Akte. Das oberste Foto auf dem Stapel zeigteeine junge Frau, die auf dem kalten Stahl eines Obduktionstisches lag. Die Augen des Mädchens waren offen, aber leer, die Pupillen starr, die Lippen blau verfärbt. Die Schnittwunden, die der Täter ihr zugefügt hatte, bedeckten Brüste und Bauch, in ihrem Hals klaffte ein tiefer Schnitt.
Trevor bemerkte, wie Rain zitternd einatmete. Er wusste, dass die Fotos, die sie zuvor angesehen hatte, leichter zu ertragen gewesen waren. Die Bilder waren eigens zu dem Zweck angefertigt worden, die Opfer zu identifizieren. Diese Fotos hier hingegen waren nicht gestellt, die Kamera verbarg nichts.
„Ist das hier dasselbe Mädchen, das Sie mir gezeigt haben, als Sie mit Brian bei mir zu Hause waren?“
Trevor nickte. „Das ist Cara Seagreen, das erste Opfer in New Orleans. Sie war auch das jüngste.“
Er betrachtete Rains Profil, als sie auf die Bettkante sank und sich auf das Foto konzentrierte. Sie nahm sich Zeit und starrte eine halbe Ewigkeit auf die Aufnahme. Irgendwann schüttelte sie den Kopf. „Sie war nicht meine Patientin. Ich habe sie nie zuvor gesehen. Da bin ich mir ganz sicher.“
Rain ging die restlichen Obduktionsfotos von den anderen Opfern durch und betrachtete Bild für Bild die Leichen, nachdem sie obduziert worden waren; der vernähte Y-Schnitt war ein gemeinsames Zeichen auf ihrer Haut. Als sie den Stapel zur Hälfte durchgesehen hatte, setzte Trevor sich neben sie und legte seine Hand auf ihre. Er kannte die Reihenfolge der Fotografien auswendig.
„Der Rest sind Tatortfotos. Ich denke nicht …“
„Ich will sie sehen.“
Ein Blitz leuchtete durch die Lücke in den zugezogenen Vorhängen. Eine halbe Sekunde später grollte der Donner, und das Prasseln des Regens draußen erfüllte den Raum.
„Vielleicht sollten Sie das“, sagte er schließlich. „Könnte sein, dass Ihnen etwas auffällt.“
Er zog seine Hand zurück und ließ sie fortfahren. Die Obduktionsfotos wirkten verglichen mit den Tatortfotos beinahesteril. Der Täter hatte die Leichen wie zerbrochene, blutige Puppen zurückgelassen. Selbst nach sieben Jahren bei der Violent Crimes Unit war Trevor von den Verletzungen, die der Killer den Opfern zugefügt hatte, schockiert. Manchmal verfolgten sie ihn sogar bis in seine Träume. Er konnte sich vorstellen, wie der Anblick auf Rain wirken musste.
„Alles in Ordnung?“, fragte er, nachdem sie einige Fotos angesehen hatte.
Sie nickte, doch ihr Gesicht war blass geworden. „Ihre Handgelenke … Sind sie mit einem Rosenkranz gefesselt worden?“
„Das gehört zur Handschrift des Killers und ist eines der Details, die wir vor der Presse geheim gehalten haben“, erklärte Trevor. „Wir konnten den Hersteller bislang nicht aufspüren, obwohl wir davon ausgehen, dass jeder Rosenkranz handgefertigt und ziemlich teuer ist. Ein Schmuckexperte meint, sie wären aus Italien importiert worden. Sie bestehen aus …“
„… schwarzen Kristallperlen mit Perlmutt und einem keltischen Kreuz aus Silber“, beendete Rain den Satz für ihn. Ihre Stimme war kaum zu hören. „Als Rosenkranz-Medaille ein Bild der heiligen Agnes, der Schutzpatronin der Keuschheit und der Jungfrauen.“
Er sah wieder auf das Foto, um sicherzugehen. Es war unmöglich, die Einzelheiten auf den Bildern derartig detailliert zu erkennen. „Wie können Sie das so genau wissen?“
„Weil ich denselben Rosenkranz besitze. Er gehörte meiner Mutter. Er wurde bei einem Fotoshooting verwendet.“
Auf einmal
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