Nachtruf (German Edition)
misshandelt hatte. „Hat er dich geschlagen?“
„Er hat mich gegen die Küchentheke geschubst. Ich bin auf der Ecke aufgeschlagen.“ Seine Gesichtszüge blieben teilnahmslos, als er mit dem Daumen kleine Kreise auf ihren Handrücken malte. Rain empfand Wut und Mitgefühl, als sie hörte, was er durchgemacht hatte.
„Wo war deine Mutter?“
„Es gab nichts, was sie hätte tun können. Sie hatte selbst Angst vor ihm.“
„Sie hätte zur Polizei gehen können.“
Er sah ihr in die Augen. „James Rivette war die Polizei, Rain. Sechzehn Jahre beim NOPD, bevor er wegen Fehlverhaltens gefeuert wurde. Meine Mutter hat ein Mal die Cops zu unserem Haus gerufen. Er hat dafür gesorgt, dass sie es niemals wieder getan hat.“
„Was ist passiert?“
„Sie verbrachte die Nacht im Gefängnis. Als sie sie herausließen, hat mein Vater sie krankenhausreif geschlagen.“
Rain verstummte. Sie drückte die Lippen auf Trevors Schulter. „Es tut mir leid. Triffst du ihn manchmal? Deinen Vater?“
Er schüttelte den Kopf. „Zumindest nicht mit Absicht.“ Unten schlug leise die Standuhr im Wohnzimmer und verkündete die frühe Stunde. Trevor strich mit seinen Fingern durch ihr Haar. „Da wir gerade bei den Geständnissen sind … Willst du mir erzählen, warum du nicht Auto fahren kannst?“
Rain seufzte in der Dunkelheit. Ihr war klar, dass es jetzt an ihr war, sich zu offenbaren.
„Ich war fünfzehn, und Tante Celeste brachte mir das Fahren bei. Ich wollte meinen Lernführerschein machen. Wir drehten zur Übung ein paar Runden um den Block. Plötzlich rannte die Hündin unseres Nachbarn vor mir auf die Straße. Eine kleine blonde Cockerspanieldame namens Trixie, die ich über alles geliebt habe. Ich habe sie überfahren. Sie war unter den Rädern eingeklemmt.“ Sie spürte einen Kloß im Hals. „Ich kann immer noch hören, wie sie vor Schmerzen winselte, während Celeste versuchte, sie zu befreien. Wir haben sie sofort zum Tierarzt gebracht, aber sie starb auf dem Weg dorthin. Danach war ich nie wieder in der Lage, mich ans Steuer eines Autos zu setzen. Jedes Mal, wenn ich es versuchte, musste ich früher oder später an den Straßenrand fahren, und mein Herz raste wie ein Güterzug. An eine Weiterfahrt war dann nicht mehr zu denken.“
Einen Moment lang dachte sie, er würde ihre Geschichte abtun oder versuchen, sie irgendwie herunterzuspielen. Doch er hob ihr Kinn und küsste sie, als ob er die schmerzhafte Erinnerung vertreiben wollte.
„Danke“, murmelte Rain. „Dass du heute bei mir geblieben bist.“
„Ich meinte es so, wie ich es gesagt habe, Rain. Ich möchte dir niemals wehtun.“
Denk nicht nach, wollte sie sagen, als sie die Sorgen bemerkte, die wieder in seinem Blick standen. Sie musste diesen Moment festhalten – nur noch ein wenig, bevor die Realität wieder über sie hereinbrach. Sie zog das Laken höher, drehte sich auf die Seite und kuschelte sich an ihn. Trevors Atem war warm auf ihrer Haut.
„Mach die Augen zu“, flüsterte er. Sicher und geborgen in seinen Armen schlief sie ein.
25. KAPITEL
Als Kind hatte er das Reuegebet immer und immer wieder aufgesagt. Er erinnerte sich an die Stimme, die es zusammen mit ihm gesprochen und die Lücken gefüllt hatte, wann immer er ein Wort vergessen hatte.
Mein Gott,
aus ganzem Herzen bereue ich
alle meine Sünden,
nicht nur wegen der gerechten Strafen,
die ich dafür verdient habe,
sondern vor allem, weil ich dich beleidigt habe.
Aber jetzt wurde das Gebet schwächer und erstarb, aus seiner Kehle gepresst wie von unsichtbaren Händen. Er wollte diesen Blutdurst nicht mehr. Weder fiel es ihm leicht noch war er in der Lage, die Schuld einfach abzustreifen.
Trotz dieser Gefühle rief die Stimme wieder nach ihm. Sie verlangte seine Anwesenheit. Er ließ die Perlen auf dem kalten Marmorboden liegen, als er sich von den Knien erhob und mit seinen Händen die Ohren bedeckte. Mehr als alles andere auf der Welt wünschte er sich, die Stimme für immer zum Schweigen zu bringen.
Eine Zeit lang hatte er sich in der rabenschwarzen Nacht treiben lassen, hatte sich in schummrigen alten Gassen und verrauchten Clubs verloren. War eins geworden mit den sich im Schwarzlicht wiegenden Tänzern. Poser, alle miteinander, dachte er düster, mit ihren gefärbten Haaren und den grotesken Tagträumen von Gewalt und Vampiren. Sie hatten keine Ahnung, wie verdammt real das werden konnte.
Bald würde der Morgen kommen. Doch hier ertönte noch immer die
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