Nachts kommen die Fuechse
stimmt. Nie ist jemand zu sehen, und die Äcker, die einmal da waren, wurden vor langer Zeit aufgegeben. Hier wollte nichts wachsen. Am Ende der Straße steht ein Leuchtturm mit ein paar Nebengebäuden. Der Turm ist nicht besetzt, die Gebäude sind unbewohnt, das Leuchtfeuer wird nach Sonnenuntergang von irgendwoher automatisch eingeschaltet. Früher gingen vor dieser Küste viele Schiffe unter. Ich kenne ihre Namen, wenn ich dort gehe, sage ich sie vor mir her, es klingt wie eine Litanei. Der Zugang zum Gelände um den Leuchtturm ist verboten, es ist von Mauern umgeben, aberich weiß, wo ich durchkann. Als ich näher komme, höre ich das Geräusch des Meeres, Wut und Jauchzen zugleich. Ich komme, um zu tanzen, das konnte ich meinem Vater nie sagen. Der Wind tanzt mit mir, hält mich fest, zerrt an meinem Körper, grob, aber unwiderstehlich, ich lasse mich führen, muß aufpassen, daß er mich nicht zu Boden wirft. Die Felsen hier haben scharfe Kanten, manchmal schramme oder stoße ich mich daran, diese Wunden mußte ich früher immer verbergen. Vom Leuchtturm führte einst ein Weg zu der Bucht tief unten, wo das Meer tost. Er ist jetzt nur noch eine schwach erkennbare Spur, weil niemand mehr herkommt, kaum begehbar wegen der tückischen Steine. Es gibt nichts, woran ich mich festhalten kann, aber ich will bis zum Rand, ich will in diese ekstatische Wut hinein. Aufruhr, das ist es, Krieg, Gefahr. Große graue Flächen, die hochgehoben und gegen die Felsen geschmettert werden. Sie kommen mit einem Riesenschwung hoch und höhlen sich dann selbst aus, als wollten sie in die Luft fliegen. Viele Farben stecken in diesem Grau, mal ist es bläulich und falsch glänzend wie Petroleum, dann wieder schwarz und stumpf wie ein Leichengewand. Raserei, Schaum, der an die Felsen klatscht und für einen Moment senkrecht vor dem grauen Himmel zu stehen scheint, bis er wieder in sich zusammenbricht und im Schwarz verschwindet, das sich zurückzieht, um von neuem und nochwilder anzugreifen. Peitschenhiebe, das Geschrei von Riesen. Deswegen komme ich, wegen dieses Schreiens. Anfangs traue ich mich nicht. Aber ich weiß, daß niemand da ist, der mich sehen oder hören kann, und so fange ich an zurückzuschreien, zunächst verhalten, so daß ich mich selbst nicht höre, dann lauter und lauter, ich schreie gegen das Schreien an, kreische greller als hundert Möwen, schreie den Toten zu, die dort ertrunken sind, rufe sie, und sie rufen zurück, ich weiß, daß ich am liebsten in der Tiefe verschwinden würde, verloren in dieser wogenden Bewegung, und weiß gleichzeitig, daß es nicht möglich ist, daß das Tanzen vorbei ist, daß ich den langen Weg wieder zurückgehen muß, angetrieben von den Peitschenhieben des Winds, gegeißelt, weil ich wieder zu klein geblieben bin. Ich habe den Nordwind verloren, sagen wir, he perdido la Tramontana . Ich war glücklich, aber es gibt niemanden, dem ich davon erzählen kann. Ich muß warten, bis Sturm und Meer mich wieder zum entferntesten Punkt rufen. So ist es verabredet.
Nachts, wenn die Füchse kommen — das sind die Momente, in denen man sich das eigene Leben nicht mehr zutraut, in denen die Angst vor der Dunkelheit überhandnimmt. Daß der Erzähler in schöner Regelmäßigkeit von diesen Füchsen, diesen Ängsten heimgesucht wird, meist morgens gegen fünf, das wissen wenige. Paula weiß es, die Begehrenswerte, die auf dem Cover der Vogue abgebildet war, die rätselhafte Paula. Sie ist der geheime Mittelpunkt der Clique, in der mit Leidenschaft Bakkarat gespielt und mit Verve Geld verloren wird. Daß sie mit dem Erzähler etwas ganz Besonderes verbunden hat, begreift er erst, als der Kasinobesuch in Deauville schon beschlossene Sache ist, als Paula auf die 23 setzt, als der große Hotelbrand von Saragossa längst Geschichte ist.
Cees Nooteboom wurde 1933 in Den Haag geboren. Er lebt als freier Schriftsteller in Amsterdam und auf Menorca. Zuletzt sind bei Suhrkamp erschienen: Roter Regen . Leichte Geschichten (2008) und Berlin 1989/2009 (2009).
Helga van Beuningen hat Autoren wie A. F. Th. van der Heijden, Margriet de Moor und Marcel Möring ins Deutsche übertragen. Dafür wurde sie u. a. mit dem »Martinus-Nijhoff-Preis«, dem »Helmut-M.-Braem-Preis« und dem »Else-Otten-Übersetzerpreis« ausgezeichnet.
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