Nachts wenn der Teufel kam
Totenpredigt entgehen zu lassen. Ein paar junge Burschen sind auf Bäume geklettert, ein paar Gräber in der Nähe werden zertrampelt, zwanzig Meter abseits verwelken die Kränze auf dem Grab des Kommerzienrats Schmidthuber, der vor vierzehn Tagen plötzlich einem Herzschlag erlegen ist.
»Ihr Leben«, beginnt der Geistliche, »hatte manche Schattenseiten, über die wir hier nicht sprechen wollen. Wer frei ist von Schuld, der werfe den ersten Stein auf sie. Mit ihrem entsetzlichen Tod mußte sie manches Schuldhafte in ihrem Leben büßen. Ihr Mörder aber ist noch frei. Vielleicht wird er der irdischen Gerechtigkeit entgehen. Gott kennt ihn, und Gott wird ihn eines Tages für seine grausame Tat zur Rechenschaft ziehen. Es kommt die Stunde, wo er vor dem höchsten Richter stehen wird. Denn es geschieht nichts auf der Welt ohne den Willen Gottes. Und nichts, was auf der Welt geschieht, kann dem Auge Gottes verborgen bleiben.«
Fast ein ganzes Jahr vergeht, bis der unheimliche unbekannte Mörder wieder zuschlägt. Am 5. Juli 1936, einem Freitag, trifft und tötet er um 9.30 erneut ein Opfer. Mitten in Berlin. In der Holmstedter Straße in Wilmersdorf. In einem Häuserblock, der im Jahre 1890 seine Glanzzeit erlebte und bei einem Luftangriff des Jahres 1944 ausbrannte.
Das Radio spielt laut in der Wohnung der alten Frau. So überhört sie zunächst das Klingeln. Einen Augenblick lang schwankt sie, ob sie öffnen soll. Ein instinktives Unbehagen steigt in ihr hoch. Das kann nichts Gutes bedeuten. Es kommt selten vor, daß sie noch besucht wird. Sie ist Jüdin, und die meisten ihrer Bekannten von früher gehen ihr deshalb aus dem Weg. Sie erhält 190 Mark Rente im Monat. Wie lange das noch weitergeht, weiß sie nicht. Sie steht ganz allein auf dieser Welt, die sie nicht mehr begreifen kann. Vielleicht erscheint jetzt schon die Polizei, um sie abzuholen. Vielleicht eröffnet man ihr nur, daß ihre Rente gestrichen wird oder daß sie ihre Wohnung zu räumen hat.
Da klingelt es wieder. Diesmal lang und heftig. Berta Israelski, geboren am 22. April 1880 in Krausen, Kreis Rössel, zuckt zusammen. Mit zögernden Schritten geht sie an die Tür.
Ein Mann mit dunkelblauem Anzug und Schirmmütze grinst ihr in das Gesicht.
»Juten Morgen«, sagt er.
»Guten Morgen«, erwidert die alte Frau. »Was wollen Sie?«
»Ick hab' noch nischt jejessen heute. Ick hab' so'n Hunger. Können Se mir nich wat zukommen lassen?«
»Ich habe selbst nicht viel«, entgegnet Frau Israelski. »Ich bin Jüdin. Sie wissen sicher, was da los ist?«
Der Mann an der Tür nickt.
»Wenigstens en bisken wat«, bettelt er weiter.
»Eine Tasse Kaffee und eine Schrippe kann ich Ihnen geben.«
»Besser als jar nischt.«
»Kommen Sie doch herein«, antwortet die alte Frau.
Ohne sich umzudrehen, geht sie in die Küche, zündet das Gas an. Irgendwie ist sie froh, daß nur ein Bettler an der Tür war.
»Hübsche Wohnung haben Sie«, sagt der Mann hinter ihr.
»Ja«, erwidert Berta Israelski.
»Und Se sind immer janz alleene hier?«
» Ja .«
In der nächsten Sekunde passiert das Entsetzliche. Der Bettler stürzt sich von hinten auf sein Opfer, preßt es mit brutalter Kraft an sich.
Ein Röcheln.
Ein halblauter Schrei.
Niemand hört ihn. Nicht die Nachbarn, die sonst immer mit dem Ohr am Schlüsselloch hängen und denen keine noch so bescheidene Sensation des Alltags verlorengeht. Nicht die Passanten, die auf der Straße vorbeigehen. Nicht der Kaminkehrer, der gerade seinen Vier-Wochen-Turnus absolviert. Nicht die Hausmeisterin, die den Flur blankscheuert.
Der Mörder bleibt etwa zwanzig Minuten lang in der Wohnung. Mit einem Beil bricht er das Küchenbüfett auf. Er findet eine Sparbüchse aus Blech und steckt sie ein. Er durchwühlt die Schränke und Kommoden. Dann geht er an die Tür. Er hört Schritte im Treppenhaus und wartet.
Dann öffnet er die Wohnungstür einen Spalt breit und lauscht. Nichts zu hören im Treppenhaus. Langsam schließt er die Tür. Er verharrt noch einen Augenblick. Dann geht er nach unten. Pfeifend. Lächelnd. Gut gelaunt.
Er begegnet der Hausmeisterin.
»Passen Sie auf, junger Mann, stoßen Sie den Eimer nicht um«, sagt sie zu ihm.
»Ick hab' doch Oogen im Koppe. Schön' juten Morjen.« Er tippt sich dabei mit dem Zeigefinger lässig an den Mützenrand.
Langsam schlendert er davon, kreuz und quer durch Wilmersdorf. Ab und zu bleibt er stehen, schaut den Radfahrerinnen nach, macht halblaute Bemerkungen wie im
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