Nachts wenn der Teufel kam
noch drei. Denn wenn das Gauturnfest erst zu Ende ist, wird es schwer, fast unmöglich sein, den Mörder zu finden, der nach unumstößlicher Meinung der Polizei unter den Sportgästen zu suchen ist. In wenigen Stunden werden diese in ihre Züge, in ihre Omnibusse, auf ihre Fahrräder steigen und sich einen Teufel um die nächtliche Tat am Orangerie-Gebäude scheren.
Die Polizei weiß, daß es sich um einen Lustmord handelt. Daß Martha Schmidt, geborene Grünreif, zuletzt wohnhaft in Dessau, Dr.-Krause-Straße 5, geknebelt, erwürgt und mißbraucht wurde. Ein Fall ohne Beispiel – in Dessau wenigstens.
Den genauen Verlauf der Tat wird man in zwei, drei Tagen kennen, wenn das Protokoll der Leichenöffnung vorliegt.
Aber jetzt schon, nachmittags 15 Uhr, am 6. Juli 1935, zwei Stunden vor Siegerehrung und drei Stunden vor der Abfahrt der Sportler, weiß die Polizei eine ganze Menge.
Sie kennt das berüchtigte, finstere Lokal der Innenstadt, in dem die Ermordete ihre letzten Stunden verbrachte. Die Polizei weiß, daß Martha Schmidt schon am späten Nachmittag betrunken war.
Daß sie sich nacheinander mehreren Männern, die ihr den Schnaps bezahlten, auf den Schoß setzte. Daß sie derbe, lockere Redensarten führte. Daß sie schließlich unmittelbar vor Mitternacht mit einem Mann das Lokal verließ, der ihr Mörder gewesen sein muß.
Was aber das Aussehen dieses Mannes betrifft, so gehen die Meinungen der von der Polizei befragten Zeugen entschieden auseinander.
»Er war nicht mehr jung«, sagt die Kellnerin. »So ein Kleiner, Untersetzter. Ich habe ihn jedenfalls hier noch nie gesehen. Es muß einer von den Turnern gewesen sein, da sind ja auch Ältere dabei.«
»Nein«, erwidert der Wirt, »auf meine Kellnerin können Sie nicht hören, Herr Kommissar. Die hat ja keine Augen im Kopf. Mir ist der Mann auch gleich aufgefallen. Er war noch blutjung, schlank und mindestens einsfünfundsiebzig groß. Ich würde ihn für einen Chauffeur halten. Ich glaube auch nicht, daß er mit dem Turnfest etwas zu tun hatte. Er war bestimmt nicht der Mörder, verlassen Sie sich darauf.«
»Wie können Sie das so sicher behaupten?« fragt der Kriminalbeamte.
»Wissen Sie, als Wirt bekommt man einen Blick für seine Gäste. Der Mann, den Sie meinen, war ein ganz harmloser Bursche. Auf den ersten Blick ein gutmütiger Trottel. Dem konnte man den letzten Pfennig aus der Tasche ziehen, und er lachte noch dazu.«
Ein halbes Dutzend Gäste gibt seine Aussage zu Protokoll. Sie alle wollen sich an den Verdächtigen noch genau erinnern. Aber jeder beschreibt ihn anders. So erscheint er in den Akten der Polizei wie in einem Zerrspiegel, bald groß, bald klein, bald alt, bald jung. Festzustehen scheint nur, daß er einen dunkelblauen Anzug mit Schirmmütze trug. Aber in Anzügen dieser Art laufen in Dessau zur Stunde ein paar hundert Männer herum.
Als Tausende von Zuschauern den Siegern des Gauturnfestes zum letztenmal applaudieren, wertet die Polizei die bisherigen Ergebnisse der Fahndung aus und greift schlagartig zu. Elf verdächtige jungen Männer mit betroffenen, verstörten Gesichtern kommen in Untersuchungshaft: Drei von ihnen hatten sich in dem anrüchigen Lokal aufgehalten. Zwei waren wegen kleiner Sittlichkeitsdelikte vorbestraft. Vier hatten das Paar angeblich gesehen. Die letzten beiden schließlich fielen durch dumme, brutale Redensarten auf.
An ihrem Geburtstag trägt man Martha Schmidt zu Grabe. Die elf Männer unter Mordverdacht sind längst wieder auf freiem Fuß. Nichts, aber auch gar nichts war ihnen nachzuweisen. Was das bedeutet, weiß man im Dessauer Polizeipräsidium ganz genau. Vermutlich wird dieser Fall nie zu klären sein – wenn nämlich der Mörder nicht aus Dessau ist. Und selbst wenn er aus Dessau stammt, könnte ihn nur ein Zufall der Polizei ausliefern.
Die Sonne scheint, als man die Tote zu Grabe trägt. Die Neugierde, die primitive Spekulation auf die Sensation, sichern ihr ein pompöses Begräbnis, das in keinem Verhältnis zu ihrem armseligen Lebenswandel steht. Tausende treffen sich am Friedhof, Damen der Gesellschaft, Kleinbürger, Arbeiterfrauen, selbst Jugendliche. Längst haben die Zeitungen alle Einzelheiten dieses Mordfalles veröffentlicht. Der lange, seltsame Trauerzug, der sich unter dem hektischen Gebimmel der Totenglocke formiert, weiß sozusagen alles über die Tote im Sarg.
Dicht aneinandergedrängt scharen sich die Menschen am offenen Grab um den Pfarrer, um sich kein Wort seiner
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