Nachts wenn der Teufel kam
gar nicht erwarten, den Altweibersommer einzuleiten. Um acht Uhr werden Temperaturen gemessen, die für die Jahreszeit ungewöhnlich hoch sind. Sehnsüchtig sehen die Menschen zum Fenster hinaus. Für die meisten von ihnen ist der Urlaub längst vorbei – wenn sie überhaupt einen hatten, denn es ist Krieg, und die Männer und Söhne bereiten sich irgendwo auf den nächsten Einsatz vor.
Für Rosa Noack beginnt dieser Tag schon um fünf Uhr früh. Sie ist Stenotypistin in einem Anwaltsbüro, und ihr Chef hat heute, Dienstag, einen auswärtigen Termin wahrzunehmen.
»Spannen Sie aus«, hatte er zu ihr gesagt, und sie ließ sich nicht zweimal auffordern.
Das 28jährige hübsche blonde Mädchen ist eine Einzelgängerin. Rosa Noack findet nicht leicht Anschluss. Sie will es auch gar nicht. Am liebsten geht sie stundenlang allein im Wald spazieren. Seit Heinz, ihr Verlobter, in Polen fiel, ist sie noch ernster geworden. Es ist jetzt fast auf den Tag genau ein Jahr her, daß sie die Nachricht erhielt.
Sie hat es noch nicht verwunden.
Um halb sechs Uhr bricht sie vom Dorfgasthaus in Gräfenhainichen zur Dübener Heide auf. Zu ihrer Lieblingstour. Sie ist ein sportliches Mädchen und hat sich entsprechend angezogen. Sie trägt derbe Schnürstiefel, ein einfaches, schlichtes Kleid, für alle Fälle einen Gummimantel und einen Brotbeutel mit der Verpflegung.
Die Sonne wandert bereits nach Süden, es geht auf Mittag zu, als sich die Stenotypistin ins Gras zu ihrem Picknick niederlässt. Der flotte Fußmarsch hat ihr Appetit gemacht.
Jetzt, um elf Uhr dreißig, begegnen ihr die ersten Menschen. An der Alten Schmiedeberger Straße, fünfhundert Meter östlich vom Vorwerk Buchholz taucht eine Gruppe auf, ein älterer Mann, eine Frau, ein kleines Kind. Gemütlich wandernd kommen sie auf Rosa zu. Der ältere Herr in Knickerbocker und mit Spazierstock geht voraus. Artig begrüßt er Rosa Noack.
»Schönen guten Tag«, sagt er. »Herrliches Wetter heute, nicht?«
Rosa nickt.
»Der Weg hier geht doch nach Gräfenhainichen?« fragt der Fremde.
»Ja. Ganz genau. Sie können das Dorf gar nicht verfehlen.«
»Danke schön. Dann wünsche ich Ihnen noch viel Spaß.«
»Danke, gleichfalls.«
Die Stenotypistin isst ihr vorletztes Brot, nimmt das Papier und gräbt es ein. Unordnung kann sie nicht leiden. Es ist ein Verbrechen, die Landschaft zu verschandeln.
Rosa ist ganz allein. Wie gut es tut, einen Tag lang von den Menschen auszuspannen, von den Akten, von der Büroarbeit, von den ewigen Stenogrammen. Langsam geht sie weiter. Sie braucht noch zwei Stunden bis zu ihrem Tagesziel. Sie ahnt nicht, daß sie es nie erreichen wird.
Die Vermisstenanzeige des Polizeipräsidiums in Halle an der Saale wird telefonisch zur Gendarmeriestation Gräfenhainichen durchgegeben. Der Vater Rosa Noacks hatte wörtlich zu Protokoll gegeben:
»Es ist ganz undenkbar, daß sich meine Tochter verlaufen hat. Sie kennt jeden Weg und durchwanderte die Dübener Heide schon öfters. Es ist auch unmöglich, daß sie, ohne uns zu verständigen, zu Bekannten oder Verwandten gefahren ist oder aus sonstigen persönlichen Gründen nicht zurückkehrte. Ich kann nur annehmen, daß meiner Tochter ein Unglück widerfahren ist.«
Auf Fahrrädern durchstreifen die Gendarmen das Gelände. Ohne Erfolg. Die Touristengruppe, die Rosa Noack begegnet ist, kann ausfindig gemacht werden. Sie bestätigt, daß sie das Mädchen am Waldeck gesehen und kurz gesprochen hat. Von da an sind alle Spuren der Vermissten verschwunden.
Der Postenchef von Gräfenhainichen, ein rühriger Mann, tut, was er kann. Als er nicht weiterkommt, bittet er die Kriminalpolizei um Unterstützung. Außerdem fordert er zum Durchkämmen der Dübener Heide Militär an. Es wird bewilligt. Er erhält eine Infanteriekompanie zugeteilt. Lachend und scherzend treffen blutjunge Soldaten ein, froh, dem öden Kasernenhof für ein paar Tage zu entgehen.
Um sieben Uhr marschieren sie in die Heide.
»Frühmorgens, wenn die Hähne kräh'n«, singen sie mit kräftigen jungen Stimmen. Dann kommt das Kommando: »Lied einstellen. Zur Schützenkette ausschwärmen, marsch, marsch!«
Den Infanteristen macht das Spaß. In fünf Meter Abstand ziehen sie nebeneinander durch die Heide.
Auch die Infanteriekompanie hilft zunächst nicht weiter. Kriminalinspektor Klemm, der die Fahndung leitet, will schon aufgeben.
Da machen die Soldaten endlich einen Fund: ein ausgeblichener, leerer Brotbeutel, der Rosa Noack gehörte.
Weitere Kostenlose Bücher