Nachts wenn der Teufel kam
weiter. Dieser wiederum wendet sich an das Reichssicherheitshauptamt mit der Bitte um weitere Weisungen. Das Reichssicherheitshauptamt fordert die Akte Bruno Lüdke an. Es geht ein Fernschreiben an das Polizeiamt in Köpenick, den Mann so lange in Untersuchungshaft zu belassen, bis eine weitere Entscheidung getroffen ist.
Eine stille, unscheinbare Frau spricht bei der Staatsanwaltschaft vor, um für ihren Sohn Gnade zu erbitten.
»Sie wissen nicht, was ich schon alles mitgemacht habe, Herr Staatsanwalt. Immer wieder verspricht er, sich zu bessern. Dann ist er ein paar Wochen ganz brav und fleißig. Manchmal ist er eben so jähzornig.«
»Aber Sie wissen doch, daß es nicht so weitergehen kann, Frau Lüdke«, erwidert der Staatsanwalt.
Die Frau nickt unter Tränen.
»Herr Staatsanwalt, ich habe sechs Kinder gehabt. Drei sind gestorben. Zwei Schwestern vom Bruno sind verheiratet. Mit ihnen hat es noch nie etwas gegeben. Wie der Bruno ein Jahr alt war, ist er auf den Hinterkopf gefallen. Er war damals drei Wochen im Krankenhaus, und die Ärzte haben nicht gewußt, ob er überhaupt wieder wird. Er ist wieder gesund geworden, aber ein bisschen zurückgeblieben.«
»Damit läßt sich aber nicht alles entschuldigen, Frau Lüdke. Wir waren, bei Gott, nachsichtig genug mit Ihrem Sohn.«
»Sie wissen doch, wie das ist, Herr Staatsanwalt. An seinen Schmerzenskindern hängt man besonders. Und der Bruno hat bestimmt keine schlechten Anlagen. Er ist eben immer soviel alleine, und da kommt er manchmal auf dumme Gedanken.«
»Ich kann Ihnen diesmal nicht helfen, Frau Lüdke«, antwortet der Staatsanwalt. »Der Fall wird nicht mehr von uns behandelt. Wir müssen abwarten, bis Weisung von oben kommt. Ich werde Sie jedenfalls auf dem laufenden halten.«
Die Weisung ›von oben‹ läßt sechs Wochen auf sich warten. Sechs Wochen bleibt Bruno Lüdke in Untersuchungshaft. Sechs Wochen lang geschieht kein neuer Mord. Aber das bemerkt niemand.
Über das Schicksal Bruno Lüdke wird hinter verschlossenen Türen verhandelt. Wie nahe er in diesen Wochen dem Ende ist, ahnt niemand. Das braune System macht kurzen Prozess mit den Schwachsinnigen. Man schickt sie in die Irrenanstalt Hadamar. Von da kommt einige Wochen später eine Urne mit einem Begleitschreiben, daß der Patient bedauerlicherweise einem Herzschlag erlegen sei. Mit Tausenden von unschuldigen Menschen verfährt man so.
Einen aber, der den Tod hundertfach verdient hätte, läßt man laufen.
Er sitzt in der Zelle und isst doppelte Portionen. Er ist guter Laune. Er reißt derbe Witze. Seine Zoten bringen Abwechslung in den monotonen Gefängnisbetrieb. Er glaubt fest daran, daß ihm nichts geschehen kann.
Einmal wird er vom Gefängnisarzt besucht. Wie sollte er wissen, daß es von dieser Unterredung abhängen wird, ob er weiterleben darf oder nicht? Wie sollte der Arzt wissen, daß von seiner Entscheidung abhängen wird, ob weiter Frauen gemordet werden oder nicht?
Zwei Stunden bleibt der Arzt in der Zelle. Am selben Tag noch verfasst er das Gutachten für das Reichssicherheitshauptamt.
»Organisch gesund. Geistig zurückgeblieben. Vermutlich durch Unfall in früher Kindheit. Vom Aussehen her fälischer Typ mit dinarischem Einschlag. Reinarier. Familie erbgesund. Keine Geisteskrankheiten in der Verwandtschaft feststellbar. Lüdke ist von mäßiger Intelligenz, stellt sich dümmer, als er ist, weist listige und verschlagene Züge auf, ist aber im wesentlichen gutmütig und harmlos. Sehr geltungssüchtig und jähzornig. Primitive Lebensauffassung. Erlebnisse nur mit ordinären Frauen, meistens Prostituierten. Einweisung in ein Irrenhaus keinesfalls erforderlich. Strafrechtlich verantwortlich. L. weiß, wann er etwas Falsches tut, und schiebt dann Schwachsinn nur vor. Besuchte bis zum neunten Lebensjahr die normale Volksschule, kam dann in die Hilfsschule.
Mein Vorschlag: sicherheitshalber Sterilisation. Falls strafrechtliche Rückfälle, Einweisung in ein Arbeitslager.«
Den Vorschlag des Gefängnisarztes gibt das Reichssicherheitshauptamt als Befehl an die Köpenicker Polizei weiter. Bruno Lüdke wird sterilisiert. Sicherheitshalber, wie der Arzt vorschlug.
Nach der Operation wird der Massenmörder eindringlich ermahnt und wieder freigelassen.
Seine Mutter hat inzwischen das Pferdegespann verkauft. Ihr Sohn findet Arbeit bei einer Speditionsfirma. Aber er verrichtet seinen Dienst nur sehr unregelmäßig.
An diesem Tag, dem 10. September 1940, kann es die Herbstsonne
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