Nachts wenn der Teufel kam
Gerichtsarztes wurde auf Selbstmord geschlossen.«
Selbstmord?
Ein Blinder mußte sehen, was hier vorgefallen war. Noch nie ist es jemand gelungen, sich zehn Zentimeter über dem Boden zu erhängen. Und warum sollte ein Ehepaar mit Selbstmordabsicht vorher Schränke und Truhen durchwühlen?
Warum sollte die Tat eine halbe Stunde nach dem Weggang der Gäste geschehen? Nach einem Zechgelage, das in aufgeräumter Stimmung endete?
Warum sollte es plötzlich auf der Welt zwei Selbstmörder ohne jeden plausiblen Grund geben?
Denn so sehr die Polizei auch danach suchte, sie fand nicht den Schatten eines Motivs. Die Eheleute waren kerngesund. Sie hatten, was sie zum Leben brauchten und sogar noch ein wenig mehr. Mit der Ehe stimmte alles. Es gab keinen dunklen Punkte in der Vergangenheit. Das Leben der Eheleute Pett lag klar und aufgeschlagen vor der Mordkommission.
Und da sollten sie auf eine so schauerliche Weise grundlos aus dem Leben geschieden sein?
So steht es in den Akten, unter Berufung auf den medizinischen Sachverständigen. Vielleicht hat der Gerichtsarzt nur fahrlässig gehandelt, vielleicht übersah er die Spuren von Gewaltanwendung tatsächlich, so unwahrscheinlich diese Annahme auch sein mag, denn die Eheleute waren nach einem heftigen Kampf erwürgt worden. Die Kratzer im Gesicht, die blauen Flecken am Körper konnten unmöglich von der Starkstromlitze herrühren.
Das alles sahen die Mitglieder der Mordkommission. Sie wenigstens waren Fachleute, und für sie konnte es hier keinen Irrtum geben. Sie mussten wissen, daß der Gerichtsarzt irrte.
Sie wussten es, und sie schwiegen. Sie vertuschten den Doppelmord, wie später der ganze Fall Bruno Lüdke vertuscht wurde.
Zum ersten Mal steht außer Frage, daß die Polizei bewußt die Akten gefälscht hat, daß sie einen Mörder begünstigte, um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen. Daß sie planmäßig darauf verzichtete, ihn zu verfolgen. Daß sie ihn weitermorden ließ, noch zehn, noch fünfzehn, noch zwanzig Opfer, bloß damit im Bezirk Fahlenberg bei Gosen alles stimmte.
Die Akten verschweigen den Namen des zuständigen Beamten. Auch der Name des gerichtsmedizinischen Sachverständigen fehlt. Es wurde auch nichts gegen die beiden Beamten unternommen, als der Fall Lüdke geklärt war.
Warum?
Es kann nur eine Antwort darauf geben: Auch das Reichskriminalpolizeiamt wußte von der Begünstigung. Vielleicht erfolgte sie sogar auf höhere Weisung.
Bruno Lüdke mordet weiter. Wieder geistert sein Schatten durch Städte und Dörfer, über Landstraßen und durch Wälder. Weiter geht die Mordserie. Monatelang, jahrelang. Irgendwo wird sich das Schicksal die Opfer in blindem Zufall aussuchen.
Am Sonntag, dem 14. September 1941, ist es soweit. Die beiden Doppelmorde in den Gaststätten haben Bruno Lüdke zu weiteren Streifzügen ermuntert. An einer Berliner Ausfahrtstraße gelingt es ihm, einen Lastwagen zu stoppen. Der doofe Bruno weiß nicht, wohin die Fahrt geht. Er weiß nur, daß an ihrem Ende wieder eine ruchlose Tat stehen wird.
In Schildau, Sachsen-Anhalt, ist der Lastwagen am Ziel. Der Mörder hilft Zementsäcke abladen. Dann verschwindet er. Es ist Mittagszeit, und bis zum Abend muß er noch warten.
Auf der Suche nach einem neuen Opfer stromert er durch die Stadt. Zigaretten braucht er, Schnaps, eine Frau. Niemand beachtet ihn. Die Schildauer tragen ihre Friedensanzüge auf der Sonntagspromenade. Soldaten sitzen in den Cafés umher. Vor den Kinos stehen Schlangen. Die Mädchen haben sich herausgeputzt.
Dann kommt der Abend. Die Soldaten müssen in die Kasernen zurück. Die Mädchen gehen nach Hause. Die Kinos schließen. Um Mitternacht ist Polizeistunde, und sie wird in Schildau streng eingehalten.
Der Mann mit der Schirmmütze ist irgendwo im Gewimmel untergetaucht. In irgendeinem Lokal kauft er mit seinem letzten Geld ein Stammgericht: Sauerkraut mit Kartoffeln. Einen Tag später wird dieses Lokal nicht mehr irgendein Lokal sein. Man wird es kennen und nennen, das Gasthaus ›Zum Lindenhof‹, dicht am Stadtrand, wo die letzten Häuser an die Kartoffeläcker grenzen.
Karl Kühne, der Wirt, ist 57 Jahre alt. Vor einer halben Stunde ist ihm das Bier ausgegangen. Ein neues Fass anzuzapfen lohnt sich nicht, und das Flaschenbier war schon seit Mittag aus. Ein Wirtshaus ohne Bier ist wie ein Auto ohne Sprit.
Die letzten Gäste sind aufgebrochen.
»Geh schon voraus«, sagt Karl Kühne zu seiner Frau. »Ich werde allein hier fertig.«
Er stellt
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