Nachts
gewesen war.
Dave sagte mehrere Augenblicke lang nichts mehr, aber er hatte wieder etwas Farbe bekommen. Er sah über die Schienen zu den brachliegenden Feldern. Noch sechs oder sieben Wochen, und sie würden ins Grün sprießenden Maises getaucht sein; aber jetzt sahen sie kahl aus. Seine Augen beobachteten den Schatten einer Wolke, welcher in der Gestalt eines riesigen Falken über die Einsamkeit des Mittelwestens wanderte.
Schließlich schien er sich aufzuraffen und wandte sich Sam zu.
»Mein Bibliothekspolizist den ich für sie gezeichnet habe
hatte keine Narbe«, sagte er schließlich.
Sam dachte an das lange, blasse Gesicht des Fremden. Die Narbe war dagewesen, kein Zweifel; sie war über die Wange, unter dem Auge, über den Nasenrücken verlaufen, eine ununterbrochene, geschwungene Linie.
»Und?« fragte er. »Was bedeutet das?«
»Für mich gar nichts, aber ich glaube, für Sie muß es etwas bedeuten, Mr. Sam. Ich kenne den Stern, den Sie Stern mit vielen Zacken genannt haben. Den habe ich in einem Buch über Wappen dort in der Bibliothek von Junction City gefunden. Er heißt Malteserkreuz. Die christlichen Ritter trugen ihn auf der Brust, als sie während der Kreuzzüge in die Schlacht zogen. Er soll Zauberkräfte besitzen. Die Form hat mir so sehr gefallen, daß ich sie in das Bild eingebaut habe. Aber eine Narbe? Nein. Bei meinem Bibliothekspolizisten nicht. Wer war Ihr Bibliothekspolizist, Sam?«
»Ich weiß nicht ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, sagte Sam langsam, aber diese Stimme leise, spöttisch, quälend meldete sich wieder zu Wort: Komm mit mir, Junge ich bin Poliziiissst.
Und plötzlich hatte er wieder diesen Geschmack im Mund. Den zuckrigschleimigen Geschmack vo n roter Lakritze. Seine Geschmacksknospen verkrampften sich; sein Magen drehte sich um.
Aber es war albern. Wirklich albern. Er hatte in seinem ganzen Leben keine rote Lakritze gegessen. Konnte er nicht ausstehen.
Wenn du nie welche gegessen hast, woher weißt du dann, daß du sie nicht ausstehen kannst?
»Ich versteh Sie wirklich nicht«, sagte er mit etwas mehr Nachdruck.
»Aber Sie verstehen etwas«, sagte Naomi. »Sie sehen aus wie jemand, der gerade einen Tritt in den Magen bekommen hat.«
Sam sah sie erbost an. Sie erwiderte den Blick ruhig, und Sam spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte.
»Lassen Sie es vorläufig dabei bewenden«, sagte Dave, »aber Sie dürfen es nicht lange dabei bewenden lassen, Sam wenn Sie Hoffnung haben wollen, heil aus dieser Sache herauszukommen. Doch nun will ich Ihnen meine Geschichte erzählen. Ich habe sie noch nie zuvor erzählt, und ich werde sie auch nie wieder erzählen aber jetzt ist der richtige Zeitpunkt gekommen.«
Kapitel Elf
DAVES GESCHICHTE
1
»Ich war nicht immer Dirty Dave Duncan«, begann er. »Anfang der fünfziger Jahre war ich schlicht und einfach Dave Duncan, und jeder konnte mich gut leiden. Ich war Mitglied eben des Rotary Club, vor dem Sie neulich gesprochen haben, Sam. Warum auch nicht?
Ich war selbständig und verdiente Geld. Ich war Schildermaler, und zwar ein verdammt guter. Ich hatte in Junction City und Proverbia mehr Arbeit, als ich bewerkstelligen konnte, aber manchmal habe ich auch kleinere Aufträge in Cedar Rapids übernommen. Einmal habe ich eine Reklame für Lucky Strike an die rechte Mauer des Spielfelds der Jugendliga ganz drunten in Omaha gemalt. Ich war gefragt, und das hatte ich verdient. Ich war gut. Ich war der beste Schildermaler in der Gegend.
Ich blieb hier, weil ich mich eigentlich ernsthaft um das Malen als Kunst kümmern wollte, und ich dachte mir, das könnte man überall machen. Ich hatte keine formelle Kunstausbildung ich habe es versucht, bin aber wieder ausgestiegen und wußte, das minderte sozusagen meinen Wert; aber ich wußte, daß es Künstler gab, die es auch ohne das ganze hochtrabende Getue geschafft hatten Gramma Moses, zum Beispiel. Die brauchte keinen Führerschein; die ist einfach ohne in die Stadt gefahren.
Ich hätte es vielleicht sogar geschafft. Ich habe ein paar Ölbilder verkauft, aber nicht viele was auch nicht nötig war, denn ich war nicht verheiratet und kam mit der Schildermalerei gut über die Runden. Außerdem behielt ich fast alle meine Bilder, damit ich Ausstellungen machen konnte, wie das bei Künstlern nun mal üblich ist. Ich hatte auch ein paar Ausstellungen. Zuerst hier in der Stadt, dann in Cedar Rapids, dann in Des Meines. Über die wurde im Democrat berichtet, und darin haben sie
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