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Nachtschicht

Nachtschicht

Titel: Nachtschicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Dann hörte er sie, hörte, wie sie sich gegenseitig anfeuerten, wie sie sich manchmal in die Quere kamen (»He, das ist meine Reihe!«), und das Geräusch drohte ihn in Panik zu versetzen.
    Sie waren ein ganz schönes Stück weiter links, und es klang nicht so, als ob sie Erfahrung mit solchem Suchen hätten.
    Er nahm das Taschentuch aus dem Hemd, faltete es und drückte es wieder hinein, nachdem er sich die Wunde angesehen hatte. Trotz der primitiven Behandlung war die Blutung zum Stillstand gekommen.
    Er ruhte sich noch einen Moment aus, und plötzlich wurde er sich bewußt, wie gut er sich fühlte, so gut wie schon seit Jahren nicht mehr … mit Ausnahme des Pochens in seinem Arm. Er fühlte sich irgendwie befreit, und mit plötzlicher Klarheit erkannte er, wie die letzten beiden Jahre seiner Ehe an ihm gezehrt hatten. Es war nicht richtig, daß er so dachte, sagte er sich selbst. Er befand sich in der gefährlichsten Situation seines Lebens, und seine Frau war ihnen in die Hände gefallen.
    Vielleicht war sie jetzt schon tot. Er versuchte, sich Vickys Gesicht vorzustellen und versuchte, das seltsame, gute Gefühl zu unterdrücken, das er dabei empfand, aber ihr Gesicht blieb verschwommen. Statt dessen sah er den rothaarigen Jungen vor sich, der das Messer in seiner Kehle umklammert hielt.
    Er wurde sich des süßlichen Duftes um ihn herum bewußt.
    Der Wind, der über die Pflanzenspitzen strich, machte ein Geräusch, das dem entfernter Stimmen ähnlich war. Besänfti-gend. Was auch immer im Namen des Mais geschehen sein mochte, nun schützte er ihn. Aber sie kamen näher.
    Geduckt jagte er die Reihe entlang, in der er sich ausgeruht hatte, wich nach rechts aus, lief zurück und überquerte immer mehr Reihen. Er versuchte dabei, sich rechts von den Stimmen zu halten, aber je weiter der Nachmittag voranschritt, um so schwieriger wurde es. Die Stimmen wurden schwächer, und oft vermischten sie sich mit dem Rascheln des Mais so daß er die Geräusche nicht mehr zu trennen vermochte. Er rannte, lauschte, rannte wieder. Die Erde war ausgedörrt, und seine bestrumpften Füße hinterließen fast keine Spuren.
    Als er endlich anhielt, hing die Sonne über den Feldern zu seiner Rechten, rot und verwaschen, und ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, daß es schon Viertel nach sieben war. Die Sonne hatte die Maisspitzen in rotes Gold getaucht, aber die Schatten waren bereits tief und dunkel. Er hob den Kopf und lauschte.
    Bei Beginn des Sonnenunterganges war der Wind vollkommen versiegt, und der Mais stand still, entfaltete sein Aroma in der warmen Luft. Wenn sie immer noch im Mais waren, dann waren sie entweder sehr weit entfernt, oder sie hatten sich versteckt und lauschten ihrerseits.
    Aber Burt konnte sich nicht vorstellen, daß eine Kinderbande, selbst eine solch verrückte, sich so lange ruhig halten konnte. Er vermutete, daß sie sich genauso wie andere Kinder verhalten würden, ohne die Konsequenzen zu bedenken: Sie hatten aufgegeben und waren nach Hause gegangen.
    Er begann, sich in Richtung der untergehenden Sonne zu bewegen, die zwischen den weißen Wolken am Horizont hing.
    Wenn er sich diagonal zu den Reihen bewegte, und dabei immer die Sonne im Rücken behielt, mußte er früher oder später auf die Bundesstraße 17 stoßen.
    Der Schmerz in seinem Arm war zu einem dumpfen Pochen abgeklungen, das er als fast angenehm empfand, und hoch immer fühlte er sich von einem erlösten Gefühl durchströmt. Er beschloß, dieses Gefühl, solange er hier war, zu genießen, ohne sich dabei von irgend etwas anderem ablenken zu lassen.
    Wenn er sich den Behörden stellte und berichtete, was in Gatlin geschah, dann würde ihn früh genug die Schuld einholen.
    Aber das hatte Zeit.
    Er schob sich durch den Mais und dachte, daß er sich noch nie zuvor so klar gefühlt hatte: Fünfzehn Minuten später war die Sonne nur noch eine Halbkugel am Horizont, und er hielt wieder; sein neu erwachtes Bewußtsein verwischte sich in einer Art, die er nicht mochte. Er empfand irgendwie … nun, er empfand irgendwie Angst.
    Er hob den Kopf. Der Mais raschelte. Burt hatte es schon die ganze Zeit über bemerkt, aber er hatte ihm keine Beachtung geschenkt.
    Es war windstill. Was konnte es sein?
    Er sah sich unsicher um, erwartete halbwegs, erwartete fast, daß die lächelnden Jungen in ihren Priestergewändern aus dem Mais gekrochen kamen, ihre Messer entschlossen in der Hand hielten. Aber nichts dergleichen. Immer noch raschelte es. Zu seiner

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