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Nachtschicht

Nachtschicht

Titel: Nachtschicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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manchmal wirklich wie Anklagen aussehen. Ihr Brief war zerknittert und schmutzig, und eine der Ecken mußte irgendwo auf dem Weg geknickt worden sein. Ich las ihn, und das nächste, was ich weiß, ist, daß ich neben dem Telefon im Wohnzimmer stand, den Hörer in der Hand, und Dad anrufen wollte. Doch dann legte ich den Hörer entsetzt wieder auf die Gabel. Er war ein alter Mann und hatte schon zwei Herzanfälle hinter sich. Ich wollte ihn doch nicht im Ernst anrufen und ihm von Karrinas Brief erzählen, so kurz nachdem wir aus Los Angeles zurück waren? Das hätte seinen Tod bedeuten können.
    Ich rief ihn also nicht an. Und es gab niemanden, dem ich es hätte erzählen können … so etwas wie dieser Brief ist so persönlich, daß man höchstens mit seiner Frau oder einem sehr engen Freund darüber sprechen kann. Richtig enge Freunde habe ich hier eigentlich nicht, und meine Frau Heien und ich haben uns 1971 scheiden lassen. Der einzige Kontakt, den wir noch haben, sind die Karten zu Weihnachten. Wie geht es dir?
    Was macht die Arbeit? Ein frohes Neues Jahr.
    Ich habe die ganze Nacht wachgelegen und über Katrinas Brief nachgedacht. Sie hätte es auch auf eine Postkarte schreiben können. Es stand nur ein einziger Satz unter der Anrede
    »Lieber Larry«. Aber ein Satz kann sehr viel aussagen. Und er kann sehr viel bewirken.
    Ich sehe Dad noch im Flugzeug vor mir, sein Gesicht wirkte alt und müde im harten Sonnenlicht von 18000 Fuß Höhe, als wir von New York aus nach Westen flogen. Wir hatten gerade Omaha hinter uns gelassen, wie uns der Pilot erklärte, und Dad meinte: »Es ist viel weiter, als es aussieht, Larry.« In seiner Stimme lag eine tiefe Traurigkeit, die mich unsicher machte, weil ich es nicht verstehen konnte. Ich verstand es, nachdem ich Katrinas Brief bekam.
    Wir wuchsen in einer Stadt namens Hemingford Home achtzig Meilen westlich von Omaha auf - wir, das waren mein Dad, meine Mom, meine Schwester Katrina und ich. Ich war zwei Jahre älter als Katrina, die von allen Kitty gerufen wurde. Sie war ein bildhübsches Kind und später eine bildhübsche Frau - schon mit acht, als diese Sache in der Scheune passierte, konnte man sehen, daß ihr weizenblondes, seidiges Haar nie dunkler werden und ihre Augen immer tiefblau bleiben würden. Ein Blick in diese Augen mußte jeden Mann schwach werden lassen.
    Ich glaube, man hätte uns als Bauern bezeichnen können.
    Mein Dad besaß dreihundert Morgen flaches, fruchtbares Land, auf dem er Korn anbaute und Vieh züchtete. Alle nannten es einfach »Daheim«. Damals waren noch alle Straßen unbefestigt, mit Ausnahme der Highways Interstate 80 und Nebraska Route 96 , und eine Fahrt in die Stadt war etwas, worauf man sich schon drei Tage im voraus freute.
    Heute bin ich einer der besten freien Rechtsberater in Amerika - so hat man mir jedenfalls gesagt -, und der Ehrlichkeit halber muß ich eingestehen, daß ich glaube, sie haben recht.
    Der Präsident einer großen Gesellschaft stellte mich einmal seinem Direktorium als seine »beste Kanone« vor. Ich trage teure Anzüge und Schuhe aus feinstem Leder, habe drei vollbe-schäftigte Assistenten und kann jederzeit auf ein Dutzend andere zurückgreifen, wenn ich sie brauche. Damals aber ging ich auf einer staubigen Landstraße zu einer Schule mit einem einzigen Klassenraum, die mit einem Riemen zusammengebundenen Bücher über die Schulter gehängt, und Katrina ging mit. Manchmal, im Frühjahr, gingen wir barfuß. In jener Zeit mußte man noch Schuhe an den Füßen haben, wenn man in einem Restaurant bedient werden oder in einem Laden einkaufen wollte.
    Später starb dann meine Mutter - Katrina und ich besuchten zu der Zeit die High School in Columbia City -, und zwei Jahre darauf verlor mein Vater unser Heim und fing an, Traktoren zu verkaufen. Es war das Ende unserer Familie, auch wenn es damals nicht so schlimm aussah. Dad kam vorwärts in seinem neuen Job, kaufte sich eine Vertretung und erhielt vor neun Jahren einen Managerposten. Ich bekam ein Footballstipendium an der Universität von Nebraska und brachte es fertig, auch noch etwas anderes zu lernen, als mit einem Ball umzugehen.
    Und Katrina? Aber gerade über sie will ich ja erzählen.
    Die Sache mit der Scheune passierte an einem Samstag, Anfang November. In welchem Jahr genau es war, kann ich wirklich nicht mehr sagen, aber ich weiß, daß Ike noch Präsident war. Mom war auf einem Basar in Columbia City und Dad zu unserem nächsten Nachbarn (und der war

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