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Nachtschicht

Nachtschicht

Titel: Nachtschicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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doch sah ich das Buch! Was ich sah, war verschwommen und monströs, das verzerrte vierdimensionale Abbild eines Buches, dennoch als solches deutlich zu erkennen.
    Und ich war nicht der einzige Betrachter.
    Ich riß die Augen auf und spürte, wie sich mir das Herz zusammenzog. Dieses Gefühl ließ nach, wenn es auch nicht ganz wich. Ich betrachtete die aufgeschlagenen Seiten und sah mit eigenen Augen das Schriftbild und die Diagramme. Eine alltägliche Sache. Aber gleichgzeihg sah ich alles von unten, aus einem anderen Winkel und aus anderen Augen. Und ich sah kein Buch mehr, sondern etwas Schauriges, Fremdartiges und Unheilkündendes.
    Ich schlug die Hände vor die Augen und sah mein Wohnzimmer als Horrorvision.
    Ich schrie.
    Durch die Risse im Fleisch meiner Finger schauten Augen mich an. Ich sah, wie das Fleisch sich öffnete und zurückschob, damit diese toten Augen an die Oberfläche gelangten.
    Aber nicht deshalb schrie ich. Ich hätte mir selbst ins Gesicht gesehen und ein Ungeheuer erblickt.
    Die Schnauze des Buggy tauchte über dem Hügel auf, und Richard hielt vor meiner Veranda. Der Motor lief unregelmäßig, und es gab ein paar Fehlzündungen. Ich fuhr mit dem Rollstuhl die Schräge neben der Treppe hinab, und Richard half mir in den Wagen.
    »Okay, Arthur«, sagte er. »Dies ist deine Party. Wohin?«
    Ich zeigte zum Wasser hinunter, wo die große Düne auslief.
    Richard nickte. Die Hinterräder drehten durch und ließen den Sand spritzen. Normalerweise machte ich hämische Bemerkungen über Richards Fahrkünste, aber heute abend versagte ich mir das. Ich mußte an zu viele Dinge denken. Und dann war das Gefühl: Sie wollen nicht im Dunkeln bleiben. Ich spürte, wie sie versuchten, durch die Bandagen hindurchzuschauen, wie sie mich veranlassen wollten, die Bandagen abzunehmen.
    Holpernd und rüttelnd dröhnte der Buggy durch den Sand zum Wasser hinunter. Auf dem Weg nach unten schien er manchmal fast abheben zu wollen. Blutrot ging links die Sonne unter. Direkt vor uns zogen Gewitterwolken auf. Blitze zuckten über der See.
    »Nach rechts«, sagte ich. »Bei dem Schuppen dort.«
    Richard brachte den Buggy neben den verrotteten Überresten des Schuppens zum Stehen. Er griff nach hinten und hielt plötzlich einen Spaten in der Hand. Ich zuckte zusammen.
    »Wo?« fragte Richard ohne jede Regung.
    »Gleich hier.« Ich zeigte ihm die Stelle.
    Er stieg aus und ging langsam durch den Sand. Dann stieß er den Spaten in den Boden. Er grub lange. Der Sand, den er hinter sich warf, war feucht. Die Gewitterwolken waren dunkler geworden und standen hoch über uns, und unter ihrem Schatten wirkte die See um so bedrohlicher. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch das erlöschende Rot der sinkenden Sonne.
    Lange bevor er aufhörte zu graben, wußte ich schon, daß er den Jungen nicht finden würde. Sie hatten ihn fortgeschafft.
    Denn gestern abend waren meine Hände nicht bandagiert gewesen. Deshalb hatten sie auch sehen können. Schlimmer noch: Sie hatten gehandelt. Und wenn sie mich dazu bringen konnten, den Jungen zu töten, dann konnten sie mich auch dazu veranlassen, ihn wegzuschaffen. Selbst im Schlaf.
    »Hier liegt der Junge nicht, Arthur.« Er warf die dreckige Schaufel in den Buggy und ließ sich erschöpft auf den Sitz fallen. Die aufziehenden Wolken zeichneten Schatten in den Sand, die sich ständig veränderten. Der Wind fegte den Sand gegen die verrosteten Blechteile des Buggys. Meine Finger juckten.
    »Sie haben mich als Werkzeug benutzt«, sagte ich dumpf.
    »Und ich habe ihn von hier entfernt. Sie gewinnen die Ober-hand, Richard. Mit Gewalt öffnen sie das Tor. Ganz langsam nur, aber sie öffnen es. Hundertmal am Tag sehe ich etwas mir völlig Vertrautes - einen Spachtel, ein Bild oder nur eine Dose Bohnen. Ich stehe direkt vor diesen Dingen und weiß nicht, wie ich dort hingekommen bin. Ich strecke die Hände aus und zeige es ihnen, und genau wie sie sehe ich etwas Obszönes, etwas Verbogenes, etwas Groteskes -«
    »Arthur«, sagte er. »Arthur, hör auf. Laß diesen Unfug.« Im Licht der sinkenden Sonne sah ich das Mitleid in seinem Gesicht.
    »Du sagst, du hättest vor etwas gestanden. Du sagtest, du hättest die Leiche des Jungen von hier fortgeschafft. Du kannst doch nicht gehen, Arthur. Von der Hüfte abwärts bist du tot.«
    Ich griff an das Armaturenbrett des Buggy. »Dieses Ding ist auch tot. Aber wenn man einsteigt, kann man es in Bewegung setzen: Man kann es sogar zwingen, jemanden zu

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