Nachtschicht
töten, und selbst wenn es wollte, könnte es das nicht verhindern.« Ich hörte, wie laut und hysterisch meine Stimme klang. »Ich bin das Tor. Begreifst du das denn nicht? Sie haben den Jungen umgebracht, Richard! Sie haben die Leiche fortgeschafft!«
»Du solltest einen Arzt aufsuchen«, sagte er leise. »Wir fahren jetzt zurück. Wir -«
»Erkundige dich doch! Erkundige dich nach dem Jungen! Es müßte sich doch feststellen lassen -«
»Du kennst doch noch nicht einmal seinen Namen.«
»Er muß aus dem Dorf stammen. Es besteht nur aus ein paar Häusern. Erkundige dich -«
»Als ich den Buggy holte, habe ich mit Maud Harrington telefoniert. Ich kenne in der ganzen Gegend keine neugierigere Frau. Sie weiß alles. Ich habe sie gefragt, ob jemand vielleicht seinen Sohn vermißt. Nicht, daß sie wüßte.«
»Aber er muß von hier sein. Ganz bestimmt!«
Er griff nach dem Zündschlüssel, aber ich legte ihm die Hand auf den Arm. Er sah mich an, und ich löste meine Bandagen.
Ich ging nicht zum Arzt, und ich rief Richard auch nicht wieder an. Drei Wochen lang hatte ich Bandagen an den Händen, wenn ich das Haus verließ. Drei Wochen lang hoffte ich, daß es verschwinden würde. Eine irrationale Verhaltensweise, wie ich zugeben muß. Wenn ich ein ganzer Mann gewesen wäre, der seine Beine nicht durch einen Rollstuhl hätte ersetzen müssen, und der normal gelebt hätte, wäre ich wohl zu Dr. Flanders gegangen oder hätte mich an Richard gewandt. Ich hätte es dennoch getan, wenn ich nicht dauernd an meine Tante hätte denken müssen, die man praktisch gefangengehalten hatte und die bei lebendigem Leibe verfault war. Wie die Dinge standen, schwieg ich verzweifelt und hoffte, daß ich eines Morgens wie aus einem Alptraum erwachen würde und alles wäre vorbei.
Und ganz allmählich spürte ich sie. Eine anonyme Intelligenz. Ich fragte mich eigentlich nie, wie sie aussahen oder woher sie gekommen waren. Das mochte auf sich beruhen. Ich war jedenfalls ihr Tor, ihr Fenster zur Welt. Und ich empfand ihren Ekel und ihr Entsetzen und wußte, daß unsere Welt zutiefst von der ihren verschieden sein mußte. Ich erkannte ihren blinden Haß. Ihr Fleisch steckte in meinem. Ich begann zu ahnen, daß sie mich benutzten, mich manipulierten.
Als der Junge vorbeiging und wie üblich lässig die Hand zum Gruß hob, war ich schon fast entschlossen, Cresswell im Mari-neministerium anzurufen. In einem hatte Richard recht gehabt - was immer mich befallen hatte, mußte ich mir im Raum oder während dieser wahnsinnigen Bahn um die Venus zugezogen haben. Die Marine würde mich beobachten lassen, aber sie würde mich nicht von vornherein für verrückt erklären. Ich würde nicht mehr voller Entsetzen in kreischender Dunkelheit hochschrecken und meine verzweifelten Schreie unterdrücken müssen, während sie mich immer und immer wieder anstarrten.
Meine Hände streckten sich nach dem Jungen aus, und ich merkte, daß ich sie nicht bandagiert hatte. Im fahlen Licht der sinkenden Sonne sah ich die stummen Blicke der Augen. Sie waren groß und weit aufgerissen, und ihre Regenbogenhäute schimmerten golden. Einmal war ich mit einem gegen die Spitze eines Bleistifts gestoßen, und rasender Schmerz war durch meinen Arm gefahren. Das Auge hatte mich mit unterdrücktem Haß angestarrt. Ich habe mir nie wieder den Finger gestoßen.
Und nun beobachteten sie den Jungen. Ich spürte meine Gedanken abschweifen. Wenig später hatte ich mich nicht mehr in der Gewalt. Das Tor war offen. Ich taumelte durch den Sand auf ihn zu, und spürte meine Beine nicht mehr. Sie waren wie totes Treibholz. Meine Augen waren wie versiegelt, und ich sah nur mit jenen fremden Augen - ich sah einen monströsen Alabasterstrand, über dem purpurn der Himmel hing, sah die Überreste eines verrotteten Schuppens, der das Skelett einer unbekannten fleischfressenden Kreatur hätte sein können, sah ein grauenhaftes Wesen, das sich bewegte und atmete, das ein Gerät aus Holz und Draht unter dem Arm trug, das aus geometrisch unmöglichen rechten Winkeln konstruiert war.
Ich fragte mich, was der unglückliche fremde Junge wohl dachte, als er mit dem Sieb unter dem Arm und den von Touristenmünzen ausgebeulten Taschen vor mir stand, was er dachte, als er mich wie einen blinden Dirigenten auf sich zutaumeln sah, die Hände über einem wahnsinnigen Orchester erhoben, was er dachte, als das letzte Tageslicht auf meine Hände fiel, die rot und aufgerissen von der Last ihrer Augen
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