Nachtschicht
der Erregung durchlief ihn.
Natürlich! Lawson und Garcia hatten ihn in Chip Osways Gegenwart bedroht. Vor Gericht würde es vielleicht nicht ausreichen, aber es müßte genügen, daß die beiden aus der Schule ausgeschlossen wurden, wenn er Chip dazu bringen konnte, seine Geschichte in Fentons Büro zu wiederholen. Und er war fast sicher, daß ihm das gelingen würde, denn auch Chip hatte seine Gründe, die beiden möglichst weit weg zu wünschen.
Er fuhr gerade auf den Parkplatz, als er daran denken mußte, was mit Billy Stearns und Kathy Slavin passiert war.
In seiner Freistunde ging er hinauf ins Sekretariat. Die für die Schülerregistrierung zuständige Sekretärin stellte gerade die Abwesenheitsliste zusammen.
»Ist Chip Osway heute anwesend?« erkundigte er sich beiläufig.
»Chip …?« Sie sah ihn unschlüssig an.
»Charles Osway«, verbesserte sich Jim. »Chip ist sein Spitzname.«
Sie blätterte einen Stapel von Zetteln durch, warf einen flüchtigen Blick auf einen und zog ihn dann heraus. »Er fehlt, Mr. Norman.«
»Können Sie mir seine Telefonnummer geben?«
Sie steckte sich den Bleistift ins Haar. »Natürlich.« Aus der O-Kartei suchte sie die Nummer heraus und reichte sie Jim, der von einem der Büroapparate aus telefonierte.
Er ließ es sicher ein Dutzendmal klingeln und wollte gerade wieder auflegen, als sich am anderen Ende eine rauhe, verschlafene Stimme meldete: »Ja?«
»Mr. Osway?«
»Barry Osway ist seit sechs Jahren tot. Ich bin Gary Denkinger.«
»Sind Sie Chip Osways Stiefvater?«
»Was hat er ausgefressen?«
»Wie bitte?«
»Er ist abgehauen. Ich will wissen, was er angestellt hat.«
»Soweit ich weiß, nichts. Ich wollte nur mit ihm sprechen.
Haben Sie eine Ahnung, wo er sein könnte?«
»Nö, ich muß nachts arbeiten. Ich kenne seine Freunde nicht.«
»Sie wissen also nicht -«
»Nee. Er hat den alten Koffer und fünfzig Bucks mitgenommen, die er vom Verkaufen gestohlener Autoteile oder Hasch oder was weiß ich, womit sich diese Burschen sonst Geld verdienen, gespart hat. Ich glaube, er ist ab nach San Francisco, um da als Hippie herumzugammeln.«
»Würden Sie mich anrufen, wenn Sie etwas von ihm hören? Jim Norman, englische Abteilung.«
»Klar doch.«
Als Jim den Hörer auflegte, sah die Sekretärin auf und verzog den Mund zu einem flüchtigen, nichtssagenden Lächeln. Jim erwiderte das Lächeln nicht.
Zwei Tage später tauchten auf der morgendlichen Anwesenheitsliste die Worte »hat die Schule verlassen« hinter Chip Osways Namen auf. Jim machte sich darauf gefaßt, daß Simmons mit einem neuen Hefter bei ihm erschien. Eine Woche später war es dann soweit.
Betäubt starrte er auf das Photo. Es gab keinen Zweifel. Statt des Bürstenschnitts waren die Haare jetzt lang, aber immer noch blond. Und das Gesicht war dasselbe, das von Vincent Corey. Für seine Freunde und Vertrauten Vinnie. Mit einem unverschämten Grinsen auf den Lippen sah er Jim vom Photo an.
Jims Herz klopfte schwer, als er sich dem Klassenraum näherte, in dem die siebte Stunde stattfand. Lawson, Garcia und Vinnie Corey standen vor der Tür neben dem Schwarzen Brett - alle drei streckten sich, als sie Jim herankommen sahen.
Vinnie zeigte sein unverschämtes Grinsen, doch seine Augen waren so kalt und tot wie winzige Eisschollen. »Sie müssen Mr. Norman sein. Hi, Norm.«
Lawson und Garcia kicherten.
»Ich bin Mr. Norman.« Jim ignorierte die Hand, die ihm Vinnie entgegenstreckte. »Merk dir das, ja?«
»Aber klar doch. Wie geht’s Ihrem Bruder?«
Jim erstarrte. Er fühlte, wie sich seine Blase löste, und wie aus weiter Ferne, am Ende eines Korridors irgendwo in seinem Gehirn, vernahm er eine geisterhafte Stimme: Hey, guck mal, Vinnie, er hat sich in die Hose gemacht!
»Was weißt du über meinen Bruder?« fragte er heiser.
»Nichts«, entgegnete Vinnie. »Nicht viel.« Auf ihren Gesichtern lag wieder jenes ausdruckslose, gefährliche Grinsen.
Es kungelte, und sie schlenderten ins Klassenzimmer.
In der Telefonzelle vor dem Drugstore, um zehn Uhr an jenem Abend.
»Vermittlung? Können Sie mich mit dem Polizeirevier in Stratford, Connecticut, verbinden? Ich weiß die Nummer nicht.«
Klicken in der Leitung. Rücksprache.
Der Polizist war Mr. Nell gewesen. Ein weißhaariger Mann und damals etwa Mitte Fünfzig. Als Kind war es schwierig, das Alter zu schätzen. Ihr Vater war tot, und Mr. Nell hatte das irgendwoher gewußt.
Nennt mich Mr. Nell, Jungs.
Jim und sein Bruder trafen
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