Nachtschrei - Deaver, J: Nachtschrei - The Bodies left behind
aufzuziehen. Seine erste Frau hatte sich gegen die Mutterschaft entschieden, ganz unerwartet und nachdrücklich - und erst nach einigen Jahren Ehe. Das war eine große Enttäuschung für Graham gewesen. Er glaubte, eine angeborene Begabung für Erziehungsfragen zu besitzen, und nun entnahm er Mr. Raditzkys Tonfall erste Warnsignale.
»Tja, ich möchte etwas mit Ihnen besprechen … Wussten Sie, dass Joey heute die Schule geschwänzt hat? Und dass er asphaltsurfen war?« Er klang leicht vorwurfsvoll.
»Geschwänzt? Nein, er war da. Ich selbst habe ihn dort abgesetzt. Brynn musste heute früh zur Arbeit.«
»Nun, er hat aber dennoch geschwänzt, Mr. Boyd.«
Graham widerstand dem Impuls, ihm erneut zu widersprechen. »Bitte fahren Sie fort.«
»Joey ist heute Morgen in die Zentralsektion gekommen und hat mir einen Zettel gegeben, auf dem stand, er habe einen Arzttermin. Und um zehn ist er gegangen. Die Entschuldigung war von Miss McKenzie unterzeichnet. Als wir hörten, er habe sich verletzt, habe ich das in unseren Unterlagen überprüft. Es war nicht ihre Unterschrift. Er hat sie gefälscht.«
In diesem Moment empfand Graham die gleiche plötzliche Unruhe wie letzten Sommer, als er eine Schubkarre mit Pflanzen durch den Garten eines Kunden geschoben und dabei unbemerkt ein Hornissennest überrollt hatte. Fröhlich und vergnügt hatte er sich des schönen Tages erfreut und nicht geahnt, dass der Stein bereits ins Rollen gebracht war und Dutzende von Angreifern Kurs auf ihn genommen hatten.
»Oh.« Er blickte hoch, in Richtung von Joeys Zimmer. Von dort waren die gedämpften Klänge eines Videospiels zu hören.
Hausaufgaben …
»Und was war das noch? Surfen?«
»Asphaltsurfen. So nennen die Kids das, wenn sie sich an einer roten Ampel auf ihren Skateboards hinter einen Lastwagen hängen und sich dann mitziehen lassen. So hat Joey sich verletzt.«
»Nicht auf dem Schulhof?«
»Nein, Mr. Boyd. Eine unserer Aushilfslehrerinnen war gerade auf dem Heimweg und hat ihn auf der Elden Street gesehen.«
»Dem Highway ?«
In Humboldt war die Elden Street eine breite Geschäftsstraße, aber jenseits der Stadtgrenze erfüllte sie wieder ihren eigentlichen Zweck, nämlich den einer Verkehrsverbindung zwischen Eau Claire und Green Bay, auf der das ausgeschilderte Tempolimit zumeist ignoriert wurde.
»Sie hat gesagt, der Laster sei mit ungefähr sechzig Kilometern pro Stunde unterwegs gewesen, als Joey gestürzt ist. Der Junge ist nur deswegen noch am Leben, weil in dem Moment kein Wagen dicht hinter ihm war und er zudem auf eine Grasfläche neben der Fahrbahn gerutscht ist. Das hätte genauso gut ein Telefonmast oder ein Gebäude sein können.«
»O Gott.«
»Sie müssen sich um die Sache kümmern.«
Ich habe schon mit ihm darüber gesprochen …
»Das werden wir, Mr. Raditzky. Ich richte es Brynn aus. Sie wird auf jeden Fall mit Ihnen reden wollen.«
»Danke, Mr. Boyd. Wie geht es ihm?«
»Eigentlich prima, bis auf ein paar Schrammen.«
Es geht ihm gut …
»Der junge Mann hat wirklich einen Schutzengel.« Wenngleich
Raditzky eher kritisch klang. Graham konnte es ihm nachfühlen.
Er wollte sich soeben verabschieden, als ihm noch etwas einfiel. »Mr. Raditzky«, leitete Graham die glaubwürdige Lüge ein. »Brynn und ich haben uns zufällig gestern darüber unterhalten. Hat diese Rauferei, in die Joey verwickelt war, irgendwelche Folgen gehabt?«
Eine Pause. »Äh, welche Rauferei meinen Sie?«
Herrje, wie viele gab es denn? »Die im letzten Herbst«, erwiderte Graham zögernd.
»Ach, die schlimme. Im Oktober. Die Suspendierung.«
Und schon wieder war er unbekümmert über ein Hornissennest hinweggetrampelt … Brynn hatte ihm erzählt, auf der Halloweenparty der Schule habe es eine kleine Rangelei gegeben, nichts Ernstes. Graham wusste noch, dass Joey danach ein paar Tage zu Hause geblieben war - weil er sich nicht wohlgefühlt habe, behauptete Brynn. Doch das war anscheinend gelogen gewesen. Man hatte ihn vom Unterricht ausgeschlossen.
»Miss McKenzie hat Ihnen doch bestimmt erzählt, dass die Eltern auf eine Klage verzichtet haben, nicht wahr?«, fragte der Lehrer.
Eine Klage? … Was genau hatte Joey getan? »Sicher«, sagte Graham. »Aber ich habe in erster Linie den anderen Schüler gemeint.«
»Oh, der hat die Schule gewechselt. Er war ein Problemfall, SG.«
»Was?«
»Seelisch gestört. Er hatte Joey verspottet. Aber das ist kein Grund, ihm fast die Nase zu brechen.«
»Natürlich nicht. Es
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