Nachtschrei - Deaver, J: Nachtschrei - The Bodies left behind
nicht lange zum Narren halten, aber er würde Brynn und Michelle zumindest etwas Zeit verschaffen.
»Können wir jetzt anhalten?«, fragte Michelle.
»Warum, tut Ihr Knöchel weh?«
»Ja, na klar. Aber ich meine, lassen Sie uns einfach hier warten. Die beiden werden bald weg sein.« Sie aß ihre Kekse. Brynn musterte die Tüte. Michelle bot ihr auch welche an - zögernd, wie es schien. Brynn aß hungrig eine Handvoll.
»Wir dürfen nicht trödeln, wir müssen weiter.«
»Wohin?«
»Nach Norden.«
»Was heißt ›nach Norden‹? Gibt es da irgendwo eine Hütte oder ein Telefon?«
»Wir entfernen uns so weit wie möglich von diesen Männern. Hinein in den Park.«
Michelle wurde langsamer. »Schauen Sie sich doch mal um. Hier sieht es aus wie im Urwald, voller Gestrüpp und … na ja, eben wie im Urwald. Es gibt keine Pfade. Es ist eisig kalt.«
Ausgerechnet du mit deiner Zweitausend-Dollar-Jacke musst dich beschweren, dachte Brynn.
»Sechs oder acht Kilometer von hier gibt es eine Ranger-Station.«
»Acht Kilometer!«
»Psst.«
»Das ist doch Blödsinn. Wir können uns keine acht Kilometer durch dieses Dickicht vorarbeiten.«
»Sie sind in guter Verfassung. Sie joggen, richtig?«
»Auf einem Laufband in meinem Fitnesscenter. Nicht an Orten wie diesem. Und in welche Richtung müssen wir überhaupt? Ich habe jetzt schon die Orientierung verloren.«
»Ich weiß ungefähr, wo die Station steht.«
»Mitten im Wald? Ich kann nicht!«
»Wir haben keine Wahl.«
»Sie verstehen nicht … Ich habe Angst vor Schlangen.«
»Die haben viel größere Angst vor Ihnen, glauben Sie mir.«
Michelle hielt die Kekse hoch. »Das ist nicht genug zu essen. Wissen Sie, was Hypoglykämie ist? Die Leute halten das für eine Lappalie. Aber ich könnte plötzlich umkippen.«
»Michelle«, sagte Brynn entschlossen. »Die Männer dahinten wollen uns töten. Ihre Angst vor Schlangen und Ihr Blutzuckerspiegel stehen auf der Liste unserer Probleme ziemlich weit unten.«
»Ich kann das nicht.« Die Frau erinnerte Brynn an Joeys ersten Tag in der Grundschule; er hatte sich breitbeinig hingestellt und sich geweigert, am Unterricht teilzunehmen. Sie brauchte zwei Tage, um ihn zu überreden. Brynn nahm in Michelles Miene nun sogar die gleichen Anzeichen von Hysterie wahr. Die junge Frau blieb stehen. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und sie gestikulierte hektisch. »Ich kaufe meine Lebensmittel im Bio-Supermarkt ein, ich trinke Kaffee bei Starbucks. Das hier bin nicht ich, das ist nicht meine Welt. Ich kann das nicht!«
»Michelle«, sagte Brynn sanft. »Es wird alles wieder gut. Das hier ist bloß ein Naturschutzgebiet. Jeden Sommer kommen Tausende von Besuchern her.«
»Aber die bleiben auf den Wegen und Pfaden.«
»Und wir werden einen finden.«
»Menschen verirren sich. Ich hab da neulich was im Fernsehen gesehen. Dieses Paar hatte sich verlaufen und ist erfroren, und dann wurde es von Tieren aufgefressen.«
»Michelle …«
»Nein, ich will nicht! Wir verstecken uns hier. Wir suchen uns eine geeignete Stelle. Bitte .« Sie sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.
Brynn rief sich ins Gedächtnis, dass die arme Frau mit angesehen hatte, wie ihre Freunde erschossen wurden - und dass sie beinahe selbst ermordet worden wäre. Sie bemühte sich um Geduld. »Nein. Dieser eine Mann, Hart, wird uns auf jeden Fall verfolgen, sobald er den Trick mit dem Boot durchschaut hat. Er wird nicht wissen, dass wir in diese Richtung geflohen sind, aber er dürfte es ahnen.«
Michelle blickte panisch zurück. Ihr Atem beschleunigte sich.
»Okay?«
Die junge Frau stopfte sich weitere Kekse in den Mund und steckte die Tüte ein, ohne Brynn noch einmal davon anzubieten. Dann verzog sie angewidert das Gesicht. »Also gut. Sie haben gewonnen.«
Nach einem letzten Blick zurück setzten die Frauen hastig ihre Flucht fort und umgingen so gut wie möglich das Unterholz, das an manchen Stellen dermaßen dicht war, dass es sogar einer Machete getrotzt hätte. Es gab jedoch jede Menge Nadelbäume, die es ermöglichten, den Weg abseits des wie Stahlwolle verwobenen Gestrüpps fortzusetzen.
Sie entfernten sich immer weiter von den Häusern, und Michelle kam trotz des Humpelns recht gut voran. Brynn hielt ihren Speer fest umklammert und kam sich mit der provisorischen Waffe einerseits selbstsicher und andererseits lächerlich vor.
Bald hatten sie einen halben Kilometer hinter sich, dann einen ganzen.
Da zuckte Brynn plötzlich
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