Nachtschrei - Deaver, J: Nachtschrei - The Bodies left behind
zusammen und wirbelte herum. Sie hatte eine Stimme gehört.
Doch es war nur Michelle, die leise vor sich hin murmelte. Ihr Gesicht wirkte im blauen Mondschein gespenstisch. Auch
Brynn hatte die Angewohnheit, Selbstgespräche zu führen. Eine Krankheit hatte ihr den Vater genommen und ein betrunkener Autofahrer eine gute Freundin beim Department. Und sie hatte einen Ehemann verloren. Während jener Phasen des Kummers hatte sie mit sich selbst geredet und um Stärke gebetet oder einfach nur drauflosgeplappert. Sie hatte herausgefunden, dass Worte aus irgendeinem Grund den Schmerz linderten. Erst heute Nachmittag hatte sie es wieder getan, als Joey im Krankenhaus geröntgt worden war. Sie wusste aber nicht mehr, was sie da gesagt hatte.
Sie kamen an schaumigen Tümpeln vorbei, die unter Bitterklee und Beerensträuchern erstickten. Brynn war überrascht, als sie an einer vom Mond beschienenen Stelle eine Ansammlung von Kannenpflanzen sah - die sich von Insekten ernährten, wie Brynn gelernt hatte, als sie Joey bei einem Referat für die Schule behilflich gewesen war. Frösche quakten beharrlich, und Vögel stießen traurige Rufe aus. Gott sei Dank war es noch zu früh im Jahr für Mücken. Brynn zog die Viecher magnetisch an und benutzte im Sommer kein Parfüm, sondern Citronellöl.
»Ich bin schon auf zwei Such- und Rettungsmissionen hier im Park gewesen«, flüsterte Brynn, um Michelle zu beruhigen - und sich selbst. Sie hatte sich freiwillig zu den besagten Einsätzen gemeldet, weil sie das bei den Kursen der Staatspolizei erworbene Wissen in der Praxis anwenden wollte. Zu der Ausbildung hatte auch ein optionales - und äußerst anstrengendes und quälendes - Mini-Überlebenstraining gehört.
Aus einer der beiden Suchaktionen im Marquette State Park war letztlich eine sehr unangenehme Leichenbergung geworden, aber das erwähnte Brynn wohlweislich nicht.
»Ich kenne mich hier zwar nicht allzu gut aus, aber ich habe einen ungefähren Überblick. Hier irgendwo ganz in der Nähe ist der Joliet Trail, höchstens zwei oder drei Kilometer entfernt. Sagt Ihnen das was?«
Michelle schüttelte den Kopf. Ihr Blick war auf das Bett aus
Kiefernnadeln zu ihren Füßen gerichtet. Sie wischte sich die Nase am Ärmel ab.
»Der Pfad wird uns zu der Ranger-Station führen. Sie ist jetzt geschlossen, aber wir könnten dort ein Telefon oder eine Schusswaffe finden.«
Die Station war für Brynn die erste Wahl. Doch falls sie das Gebäude verfehlten oder es nicht schafften, dort einzubrechen, erklärte sie, würden sie einfach auf dem nordöstlich verlaufenden Joliet Trail bleiben, bis er den Snake River kreuzte. »Wir können dem Fluss nach Osten bis Point of Rocks folgen. Das ist eine Kleinstadt auf der anderen Seite des Parks. Dort gibt es Geschäfte, von denen aus man telefonieren kann, und irgendeine Art von Polizeidienststelle - wahrscheinlich nicht rund um die Uhr besetzt, aber wir können die Leute ja aufwecken. Es ist ein ganz schönes Stück, zehn oder elf Kilometer, aber der Flusslauf führt uns genau dorthin, und zwar durch weitgehend flaches Gelände. Die andere Möglichkeit ist, am Snake River nach Westen abzubiegen und die Schlucht hinaufzuklettern, bis wir bei der Brücke auf die Interstate treffen. Dort ist immer Verkehr. Irgendein Fernfahrer oder sonst jemand wird für uns anhalten.«
»Eine Schlucht hinaufklettern«, murmelte Michelle. »Ich habe Höhenangst.«
Brynn auch (wenngleich sie das nicht davon abgehalten hatte, sich von einer hohen Klippe abzuseilen, an deren Fuß ein kleines Fass Bier wartete - die traditionelle Abschlussübung des Kurses der Staatspolizei). Die Schlucht war steil und gefährlich. Die Brücke lag ungefähr dreißig Meter über dem Talgrund, und viele der Felsen boten nahezu senkrechte Flächen. In jenem Teil des Parks hatten sie damals die Leiche geborgen. Ein junger Mann war beim Klettern ausgerutscht und aus nur sechs Metern Höhe abgestürzt, doch ein spitzer Ast hatte ihn aufgespießt. Der Gerichtsmediziner meinte, sein Todeskampf habe bis zu zwanzig Minuten gedauert.
Brynn McKenzie ging der schaurige Anblick noch immer nicht aus dem Kopf.
Sie ließen die Kiefern hinter sich und gelangten in einen uralten Teil des Waldes, der dichter und merklich dunkler war. Brynn bemühte sich, die für Michelles Knöchel günstigste Route zu wählen, aber der Weg wurde oft von Wurzeln und Sträuchern, Schösslingen und Ranken versperrt, die sie umgehen mussten. Und manchmal mussten sie sich
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