Nachtschrei - Deaver, J: Nachtschrei - The Bodies left behind
auch hindurchkämpfen.
Außerdem war es bisweilen so finster, dass sie um einige Stellen einen großen Bogen beschrieben, um nicht jäh in ein Loch zu fallen oder im tiefen Morast zu landen.
Und ständig wurden sie daran erinnert, dass sie nicht allein waren. Fledermäuse huschten vorbei, Eulen schrien. Brynn keuchte erschrocken auf, als sie auf das Ende einer Rehrippe trat, die hochschnellte und sie am Knie traf. Sie wich vor den bleichen, abgenagten Knochen zurück. Der zerkratzte Schädel des Tiers lag ganz in der Nähe.
Michelle starrte die Überreste reglos mit großen Augen an.
»Kommen Sie. Das sind bloß Knochen.«
Sie arbeiteten sich weitere hundert Meter durch die Wildnis voran. Plötzlich stolperte Michelle, hielt sich an einem Zweig fest und zuckte zusammen.
»Was ist los?«
Sie zog ihren dünnen Handschuh aus und inspizierte die Hand. Zwei Dornen hatten sich in die Haut gebohrt und waren abgebrochen. Michelle war entsetzt.
»Keine Angst, das war bloß eine Brombeerranke. Ihnen passiert nichts. Lassen Sie mich mal sehen.«
»Nein! Nicht anfassen.«
Doch Brynn nahm die Hand der Frau und untersuchte im Schein des Kerzenanzünders die winzigen Verletzungen. »Wir ziehen die Dornen heraus, damit es keine Entzündung gibt. In fünf Minuten tut es schon nicht mehr weh.«
Brynn entfernte die Fremdkörper. Michelle sog hörbar den Atem ein und starrte wimmernd die größer werdenden Blutstropfen an. Dann nahm Brynn den medizinischen Alkohol, feuchtete damit den Rand einer Socke an und tupfte die Wunden ab. Ihr fielen wieder mal die dunklen kunstvollen Fingernägel der Frau auf.
»Lassen Sie mich das machen«, sagte Michelle und nahm die Socke. Sobald sie fertig war, zog sie ein Papiertaschentuch hervor und drückte es auf die Verletzung. Als sie es wieder wegnahm, hatte die Blutung fast vollständig aufgehört.
»Wie sieht’s aus?«
»Gut«, sagte Michelle. »Sie haben recht. Es tut nicht mehr weh.«
Sie gingen weiter in die Richtung, die Brynn ihnen vorgab.
Sicher, dachte sie, Hart würde nach ihnen suchen, und sie mussten wachsam bleiben. Aber er konnte nicht ahnen, wohin sie wollten. Die Frauen hätten überall hingehen können, nur nicht nach Süden zur Landstraße, denn dann hätten sie sich an den Killern vorbeischleichen müssen.
Mit jedem Meter wuchs Brynns Zuversicht. Wenigstens wusste sie etwas über den Wald und den Pfad, der vor ihnen lag. Die Männer wussten nichts. Und auch falls Hart und sein Partner zufällig dieselbe Richtung einschlagen sollten, würden sie sich nach spätestens zehn Minuten verlaufen haben.
24
Am Ufer unweit des Hauses der Feldmans las Hart die GPS-Daten von seinem BlackBerry ab und konsultierte die mitgebrachte Karte der Gegend.
»Der Joliet Trail«, verkündete er.
»Was ist das?«
»Dorthin wollen sie.«
»Aha«, sagte Lewis. »Meinst du?«
»Ja.« Er hob die Karte. »Wir sind hier.« Er zeigte auf einen Punkt und fuhr dann mit dem Finger nach Norden. »Die braune Linie ist der Weg. Er wird sie direkt zu dieser Ranger-Station führen.«
Lewis war mit den Gedanken nicht ganz bei der Sache. Er schaute hinaus auf den See. »Was die beiden gemacht haben, war echt gerissen, das muss man ihnen lassen.«
Hart war der gleichen Meinung. Ihr kurzer Ruderausflug hatte ergeben, dass die Frauen mit Hilfe von Schwimmwesten geduckte Silhouetten nachgeahmt und das Kanu dann in den See geschoben hatten. Der Schrei als Reaktion auf die Schüsse war ein Geniestreich gewesen. Hatte Brynn oder Michelle ihn ausgestoßen? Brynn, mochte er wetten.
Hart war es nicht gewohnt, schlauer als seine Gegner sein zu müssen. Ein Teil von ihm mochte die Herausforderung, aber noch lieber behielt er die Kontrolle. Er zog Wettbewerbe vor, bei denen er von vornherein wusste, dass er vermutlich gewinnen würde. Wie bei der Arbeit mit Ebenholz, einem temperamentvollen Werkstoff - hart und brüchig -, der leicht splitterte, sodass dann Hunderte von Dollar verloren waren. Aber wenn man sich Zeit ließ und Mühe gab und eventuelle Probleme im Voraus bedachte, war das Endergebnis wunderschön.
Welche Art von Herausforderung stellte Brynn McKenzie dar?
Er roch das Ammoniak.
Hörte die schnellen drei Schüsse aus ihrer Waffe.
Ebenholz, ganz klar.
Und Michelle, an die ihn sein schmerzender Arm erinnerte?
Das blieb abzuwarten.
»Du willst sie also verfolgen?«, fragte Lewis. Er öffnete den Mund und atmete eine kleine Dampfwolke aus.
»Ja.«
»Ich muss sagen, Hart, so hatte ich mir
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