Nachtschwarze Küsse - Scent of Darkness (Darkness Chosen 01)
Kaffee, etwas zu essen und vermutlich ein bisschen Abstand von der Varinski-Geschichte. Er konnte warten.
Nicht ewig, aber für eine Weile.
Er reichte ihr sein Taschentuch, und sie blickte abwechselnd von dem Tuch zu ihm.
Ann war so leicht zu durchschauen. Sie war es nicht gewohnt, sich mitzuteilen, ihre Gedanken, ihre Träume oder ihre Vergangenheit. Sie konnte sich nicht mal in seinem Beisein die Nase putzen. Grundgütiger, sie hatte Angst, irgendwelche Emotionen rauszulassen.
Wenn sie jedoch ausgelassen lachte, herzerweichend weinte, wenn sie ihrer Leidenschaft nachgab, dann bekam er einen vagen Eindruck davon, wie Ann sein konnte, und er begehrte sie umso heftiger. Er stand auf, begann, ihre Spuren zu beseitigen, bevor sie einen Blick in seine wölfisch glänzenden Augen erhaschte.
Sie verschwand in den Bäumen, lief zum Fluss.
Zwar billigte er ihr diese Privatsphäre zu, trotzdem lauschte er auf jedes Geräusch. Er durfte nicht riskieren, dass man Ann entführte. Sein Trick mit der Ratte würde den Varinski nicht ewig ablenken, zudem war er heute Morgen mit einem mulmigen Gefühl aufgewacht.
Sie wurden beobachtet.
Zunächst dachte er an das Wolfsrudel.
Die Wölfe hatten sich bei Tagesanbruch jedoch tiefer in den Schutz des Waldes zurückgezogen.
Er spürte es rein instinktiv. Irgendein Bauchgefühl suggerierte ihm, dass ihnen noch höchstens zwei Tage blieben. Dann begann der entscheidende Kampf.
Er musste auf Ann aufpassen.
Die Tatsache, dass sie elternlos war, hatte ihn verblüfft. Warum eigentlich? Davon hätte er eigentlich ausgehen müssen. In einem Konflikt wie diesem, einem Kampf zwischen Gut und Böse, war der Standartenträger zwangsläufig eine Waise. Natürlich würde er versuchen müssen, die Schatten ihrer Vergangenheit zu zerstreuen. Würde sie am Ende bei ihm bleiben? Oder vor ihm davonlaufen? Oder würde sie die Seiten wechseln und zur Verräterin werden?
Als sie zurückkam, waren ihr Gesicht und ihre Haare feucht von ihrer Morgentoilette am Fluss, und sie wirkte wieder einigermaßen gefasst. »Jasha, wie habt ihr euch eigentlich verhalten, nachdem ihr das Anwesen der Varinskis gesehen hattet? Habt ihr darüber mit eurem Vater gesprochen?«
»Nicht direkt.« Er sammelte die letzten Sachen zusammen. »Rurik, Adrik und ich fanden, dass er mit der Bedeutung der Varinskis übertrieb. Wir wussten, dass die Legende stimmte - immerhin verwandelten wir uns in Raubtiere -, trotzdem fanden wir, dass sich die weltweit reichste Verbrecherfamilie wenigstens einen Architekten für eine Kernsanierung hätte gönnen sollen.«
»Aber es sind alles Männer. Was kümmert sie irgendein Haus?« Flüsternd setzte sie hinzu: »Wenn du mich fragst, fahren die eher auf Blut und Brandgestank ab.«
Jasha schwenkte verblüfft den Kopf zu ihr herum. »Kluges Mädchen.«
»Ich hab heute Nacht zwar kaum geschlafen, trotzdem hab ich von ihnen geträumt.« Sie warf sich ihren Rucksack über die Schulter. »Es wundert mich, dass die Varinskis dich nach diesem Internetkontakt nicht in Blythe aufspürten.«
»Es war in den Anfängen des Internets.« Es machte ihm Sorgen, dass sie von den Varinskis geträumt hatte. Hatte sie die Veranlagung seiner Mutter? Nein. Anns Unterbewusstsein hatte die logischen Verbindungen geknüpft. Das Mystische an der Legende hatte sie bestimmt nicht losgelassen. Auch wenn sie sonst immer betonte, sie ticke völlig normal ! Tsts, seine kleine bodenständige Realistin.
Wie kam es dann, dass die Madonna es nach tausend Jahren gebilligt hatte, dass Ann ihr Porträt fand?
Ann hatte ein dunkles Geheimnis, das sie geflissentlich vor ihm verbarg, dachte Jasha. Gleichwohl war er fest entschlossen, dieses Geheimnis zu lüften.
21
A ls sie gegen Mittag im Schatten einer wuchtigen Zeder
Rast machten, brannten Ann unzählige Fragen auf der Seele. Fragen, die sie nicht erst im schauerlichen Schein des Lagerfeuers loswerden mochte.
Sie nahm das Stück Roggenbrot mit Salami, das er ihr reichte, und drehte es unschlüssig in den Fingern, während er hungrig aß.
»Also das kapier ich nicht. Wenn es keine Mütter gibt, wer zieht dann die Söhne der Varinskis auf?«
Jasha kaute und schluckte. Sie beobachtete ihn, während er über ihre Frage nachsann, sämtliche Faktoren abwog - wie lange er für eine Erklärung brauchte, wie lange sie noch unterwegs sein würden, die Tatsache, dass er ihr die Geschichte noch nicht bis zum Ende erzählt hatte - und wohl beschloss, ihre Neugier zu befriedigen.
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