Nachtstürme - Peeler, N: Nachtstürme - Tempest Rising
…
Einen Augenblick lang überlegte ich, ob ich widerstehen sollte. Ich fragte mich, ob ich das Richtige tat. Aber er war witzig und schön und so anders , und er wusste um meine dunklen Geheimnisse und störte sich nicht daran … Ich betrachtete Ryus Gesicht, suchte nach der Antwort auf eine Frage, die ich nicht einmal zu stellen wagte.
Da nahm ich mit dem letzten bisschen meines Verstandes,
das noch nicht außer Kraft gesetzt war, die Spitzen seiner scharfen Fangzähne wahr, die unter seiner Oberlippe hervorblitzten. » Ach du Schande! «, dachte der Teil von mir, der sich noch fragen konnte, wo sie hier wohl den Erste-Hilfe-Kasten aufbewahrten. Gleichzeitig fragte sich der Teil, der sich extrem zu Ryu hingezogen fühlte, hoffnungsfroh: »Heißt das, er mag mich?«
Doch meine widerstreitenden Gefühle verstummten abrupt, als ich Ryus Lippen auf meinen spürte. Es war nur eine flüchtige Berührung, so sanft wie von einer Feder. »Er mag mich!«, jubelte ich innerlich. Und wenn ich ehrlich war, mochte ich ihn auch … also wappnete ich mich für das, was nun kommen würde.
Aber noch bevor Ryus Lippen die meinen noch einmal berühren konnten, wurden wir von einer wütenden, verächtlichen Stimme unterbrochen.
»Nette Vorstellung, Schlampe!«
Natürlich war es Stuart.
Ryus Arme fühlten sich plötzlich wie aus Stahl an, aber ich schaffte es irgendwie, mich aus ihnen zu lösen und umzudrehen. Stuart stand hinter mir und hatte seine Kumpels im Schlepptau wie in einem schlechten Wildwestfilm. Er funkelte mich an, als wolle er gleich auf mich losgehen, was er vermutlich auch am liebsten getan hätte.
»Hör zu, Arschloch«, sagte er zu Ryu, »ich weiß ja nicht, was dir dieses Miststück erzählt hat, aber ich hoffe, du hast eine gute Lebensversicherung. Sie bringt nämlich gerne ihre Freunde um.«
Ich erhaschte einen Blick auf Ryus Gesicht, als er einen Schritt auf den pöbelnden Kerl zu machte, und konnte
nicht glauben, dass Stuart wirklich so dummdreist war, sich mit ihm anzulegen. Ryu wirkte nicht etwa nur ein bisschen bedrohlich, er sah zum Fürchten aus.
»Er ist eben ein richtiger Vampir«, dachte ich bewundernd.
Eine von Stuarts wenigen guten Eigenschaften ist seine Konsequenz. Und in diesem Fall verhielt er sich konsequent dumm. Anstatt den Rückzug anzutreten wie seine Kumpels, missachtete er alle Warnsignale.
Stuart starrte mich an, und seine Stimme troff nur so vor Verachtung, als er sagte: »Eigentlich hätte es dich treffen sollen in dieser Nacht, du blöde Schlampe.«
Er hatte kaum den letzten Ton über die Lippen gebracht, da lag er auch schon auf dem Boden. Ryu hatte ihn mit einem einzigen Schlag kalt erwischt. Alle bis auf zwei von Stuarts »Freunden« hatten sich bereits verdrückt.
»Schafft ihn bloß hier weg«, knurrte Ryu die beiden an. Etwas sagte mir, dass er diesmal nicht die Hilfe seiner Aura brauchte, damit sie ihm gehorchten. »Und wenn ihr uns nachher draußen auflauern solltet, dann breche ich euch alle Knochen. Ist das klar?«
Stuarts Freunde nickten, packten ihn auf beiden Seiten unter den Armen und schleppten ihn davon so schnell sie konnten. Für einen Moment herrschte in der Bar Totenstille. Doch als Stuart und seine zwei Helfer durch die Tür verschwunden waren, kehrten alle wieder zu ihren Unterhaltungen zurück, als sei nichts geschehen. Man war es gewohnt, dass Stuart sich wie ein Vollidiot benahm.
»Geht es dir gut?«, erkundigte sich Ryu. Dabei nahm er meine Hand und schaute mir prüfend in die Augen.
»Ja«, log ich. Bisher war es so ein schöner Abend gewesen, und Stuart hatte ihn ruiniert.
»Möchtest du noch etwas trinken?«, fragte er.
»Nein. Kannst du mich bitte nach Hause bringen? Tut mir leid.« Plötzlich war mir zum Weinen zumute. Eine Runde Schwimmen wäre jetzt genau das Richtige. Und dann vielleicht noch eine Runde Heulen. »Was hast du erwartet, Jane?«, sagte ich mir, wütend auf mich selbst. Rockabill würde mich nie vergessen lassen, was passiert war.
»Natürlich. Ich bringe dich nach Hause«, sagte Ryu, obwohl er nicht gerade glücklich darüber wirkte.
Ich wartete an der Tür, während er die Rechnung beglich und meine Sachen holte. Meinen neu gewonnenen Freunden winkte ich zum Abschied bloß schwach zu. Ich wollte nicht zu ihnen gehen und mir anhören, wie sie sich für Stuarts Verhalten entschuldigten. Es war zu peinlich und schrecklich traurig obendrein, denn ich befürchtete, dass dieser Hauch Freiheit, die Möglichkeit, meiner
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