Nachtstürme - Peeler, N: Nachtstürme - Tempest Rising
gewesen wäre, wäre ich total irre geworden. Vielleicht war er einfach die Verkörperung von Prozac.« Ich lachte, aber Ryu blickte immer noch skeptisch drein. Er hatte die Wahrheit hören wollen, aber vielleicht hatte er nicht damit gerechnet, dass ich so ehrlich war, was mich plötzlich ziemlich verunsicherte.
»Ähm, also, du musst dir keine Sorgen machen oder so«, stammelte ich nervös.
»Bitte?«, fragte Ryu und sein Blick wechselte von skeptisch zu verwirrt.
»Mittlerweile geht es mir gut. Du musst also nicht befürchten, dass ich plötzlich durchdrehe. Ich werde jedenfalls keine Kaninchen kochen oder so. Und ich verspreche dir, dass ich dir nicht die Augen mit den Stäbchen aussteche, wenn du mich zum Chinesen ausführst. Oder aus einem fahrenden Auto springe. Oder deine Schuhbänder klaue, um jemanden zu erwürgen. Oder …«
Ryu legte mir den Finger an die Lippen, um mein ängstliches Geplapper zu unterbrechen.
»Jane, ganz ruhig. Ich denke nicht, dass du verrückt bist. Ich glaube, du warst nur vor Kummer außer dir. Und es macht mich traurig, dass du das alles aushalten musstest, ganz allein. Wir hätten uns besser um dich kümmern müssen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich verdiene kein Mitleid«, sagte ich. »Ich war diejenige, die Jason angelogen hat. Und deshalb ist er jetzt tot. Wenn du jemanden bemitleiden willst, dann Jason. Er hätte in dieser Nacht nicht sterben dürfen.«
Ryu runzelte die Stirn. »Ich nehme an, du hast sowieso schon tausend Mal gehört, dass sein Tod nicht deine Schuld ist, oder?«
»Ja, wenn ich jedes Mal einen Cent bekommen hätte bla bla …«, antwortete ich mit gepresster Stimme.
»Aber du bist an seinem Tod wirklich nicht schuld.«
»Doch, bin ich. Ich hätte nur einen Ton sagen müssen, dann hätte er gewusst, dass ich nachts heimlich schwimmen ging. Man hatte mir immer eingebläut, dass meine Schwimmerei ein großes Geheimnis bleiben musste, aber Jason liebte mich, ganz gleich, was gekommen wäre.« Ich sagte es so, als wäre es eine naturgegebene Tatsache, aber in Wahrheit bohrte ich damit nur gnadenlos in meinem wunden Punkt. Denn was, wenn Jason meine nächtlichen Ausflüge ins Meer nicht akzeptiert hätte? Vielleicht wäre das Schwimmen der letzte sprichwörtliche Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hätte.
»Ist ja auch egal«, fuhr ich fort. »Er ist tot, und ich habe schon so lange mit dieser Schuld gelebt, dass es mittlerweile … wie der Bucheinband der Geschichte meines Lebens
ist. Ich muss nach vorne blicken. Auch wenn ich mir nie verzeihen kann, ich muss nach vorne blicken.«
»Jane, Schatz, ist das realistisch? Wie willst du in die Zukunft blicken und dein Leben leben, wenn du dir noch immer für Jasons Tod die Schuld gibst?«
Ich schüttelte unwillig den Kopf. »Ich muss es einfach, Ryu. Ich kann so nicht länger leben …« Zu meinem Entsetzen versagte an dieser Stelle meine Stimme.
»Ach, Jane.« Ryu seufzte und zog mich auf sich. Er fuhr mir mit der Hand durchs Haar. »Was soll ich nur mit dir machen?«
»Lenk mich ab«, dachte ich und versuchte meine Tränen zurückzuhalten. »Erfinde mich neu. Hilf mir, mich selbst zu vergessen. Rette mich aus meinem Leben …« Einen Moment lang sah ich mich als Mina und Ryu als Gary Oldman in Dracula . Allerdings der junge, scharfe Dracula mit den langen Haaren und nicht der alte mit dem komischen Eierkopf.
»Erlöse mich von all dem Tod um mich herum«, würde ich flüstern und das Blut aus seiner Brust schlürfen. Aber dann würde ich all meine Freunde aussaugen, und man müsste mir die Stirn mit geweihten Hostien verbrennen. Vielleicht war das doch nicht die beste Lösung … außerdem hatte ich wahrscheinlich eine völlig falsche Vorstellung von dieser ganzen Vampirsache.
»Also, welche Optionen habe ich denn deiner Meinung nach?«, wollte ich wissen und schaute ihn fragend durch meine langen Ponyfransen hindurch an.
Plötzlich blickte ich in hungrige Augen, und er zog mich mit einem Ruck ein Stück weiter hoch, so dass ich in Küssweite war.
»Ich könnte dich entführen und so lange in meinen Turm einsperren, bis ich alle deine Schuldgefühle weggestreichelt habe«, sagte er und verlieh seinen Worten Nachdruck mit einem zärtlichen Kuss auf meine immer noch gerunzelte Stirn.
»Oder ich könnte dich jetzt und hier so heftig lieben, dass du vergisst, dass du überhaupt eine Vergangenheit hast, geschweige denn dich an Details aus dieser Vergangenheit erinnerst.« Diesmal
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