Nachtstürme - Peeler, N: Nachtstürme - Tempest Rising
eng.
»Jason und ich verstanden einander, und wir hatten dieses ›Wir gegen den Rest der Welt‹-Gefühl«, fuhr ich fort und drehte mich wieder um, so dass Ryu und ich uns direkt ansahen. Er lächelte mir aufmunternd zu. Ich nutzte die Gelegenheit und fing an, ein wenig an seiner Unterlippe herumzuknabbern. Dann küsste ich ihn ungestüm und öffnete bereitwillig den Mund, als ich spürte, dass seine Zunge meine suchte. Doch er durchschaute mein Ablenkungsmanöver und wandte entschieden den Kopf ab. »Ich will erst die ganze Geschichte hören«, ermahnte er mich mit sanfter Stimme.
Ich verfluchte ihn innerlich, sammelte mich dann aber wieder und erzählte weiter:
»Jason und ich teilten alles, bis auf ein einziges Geheimnis.« Ich musste mich selbst daran erinnern zu atmen und erzählte dann weiter. »Ich hatte ihm nie von meiner Schwimmerei erzählt. Denn Schwimmen ist in meiner Familie ein so streng gehütetes Geheimnis wie in anderen Inzest, Alkoholsucht oder Untreue.« Meine Stimme versagte, obwohl ich bemüht gewesen war, ganz locker zu klingen.
Dann sprudelte der Rest der Geschichte ganz plötzlich aus mir heraus. »Eines Tages ging ich ganz früh an den Strand, um eine Runde zu schwimmen. Ich ließ meine Klamotten in unserer Lieblingsbucht zurück und tauchte in die
Wellen. Aber Jason war auch in die Bucht gekommen, oder er war mir von zu Hause aus gefolgt, ich weiß es nicht. Auf jeden Fall konnte er nicht wissen, dass mir nichts passieren würde. Es war Winter und das Wasser eiskalt. Außerdem ging an dem Tag ein ziemlich starker Wind, also war der Wellengang sehr stark. Er musste ja glauben, dass ich ertrinken würde.« Dicke Tränen brannten mir auf den Wangen. »Er hat versucht, mich zu retten.« Meine Stimme versagte. Ich konnte nicht mehr weitersprechen und schloss die Augen. Ich spürte, wie Ryu mir die Tränen abwischte, aber ich war meilenweit weg und durchlebte erneut meine schrecklichen Erinnerungen.
Ich sah mich nach meinem erfrischenden Bad im tosenden Meer aus dem Wasser kommen und entdeckte am Strand neben meinem Kleiderhaufen einen zweiten. Ich kniete mich nieder, um ihn genauer zu inspizieren, und ich erinnerte mich noch genau, wie ich mich gefühlt hatte, als mir klarwurde, dass es Jasons New-England-Patriots-T-Shirt war, seine alte abgewetzte North-Face-Jacke und seine Lieblingsjeans. Dieses Gefühl werde ich nie vergessen. Aber es gibt keine Worte dafür. Ich weiß, dass man im Deutschen neue Wörter erfinden kann, indem man verschiedene andere aneinanderreiht, bis die gemeinte Idee oder das Gefühl deutlich wird. Wenn das auch im Englischen möglich wäre, bestünde ein Wort für das schreckliche Gefühl, das mich übermannte, als ich dort kniete und Jasons löchrige Wandersocken in der Hand hielt, aus einer Kombination aus totaler Verzweiflung, panischer Angst und dem überwältigenden Wunsch, zu wissen, dass er okay, dass alles nur ein Albtraum oder ein Missverständnis war.
»Die restliche Geschichte kennst du«, sagte ich mit tränenrauer Stimme. Ich hielt meine Augen weiter geschlossen. »Ich suchte stundenlang nach ihm, bis ich ihn schließlich im Old-Sow-Strudel entdeckte. Nach einer Weile trieb er zu mir herüber. Ich bildete mir ein, das würde bedeuten, er lebe noch und schwimme auf mich zu. Aber als ich ihn zu fassen bekam, war er kalt, und seine toten Augen starrten mich an.« Ich erschauderte, und Ryu nahm mich noch fester in den Arm, wie um mich zu beschützen.
»Irgendwie habe ich es geschafft, mit ihm zurück an den Strand zu schwimmen. Ich war völlig erschöpft. Ich brach mit ihm zusammen und verlor das Bewusstsein. Ich erwachte erst wieder, als ich die Notarztsirene hörte und man mich in den Krankenwagen schob und Jason in den Leichenwagen. Er war tot und ich so gut wie.«
Ryu nickte und strich mir beruhigend über den Rücken. »Du hast unglaublich viel Energie gebraucht, um ihn aus dem Strudel zu ziehen. Nell meinte, man hätte es meilenweit spüren können, aber sie hatten keine Ahnung, was passiert war und wer dahintersteckte. Sie konnten nicht ahnen, dass du es warst, denn niemand wusste auch nur annähernd, über welche Fähigkeiten du verfügst. Deine Panik war es. Wenn wir so sehr die Kontrolle über uns verlieren, kann das sehr gefährlich für uns sein. So viel Energie freizusetzen, kann uns den Tod kosten. Du hast Glück, dass du überlebt hast.«
Ich presste die Lippen zusammen, und mein Magen verkrampfte sich. »Glück?«, fragte ich bitter.
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