Nachtstürme - Peeler, N: Nachtstürme - Tempest Rising
privaten Kalender übersehen, aber darin stehen fast nur Zahnarzttermine. Kobolde nehmen es genau mit der Zahnpflege.« Den letzten Satz hatte sie zu mir gewandt gesprochen. Ich nickte verständnisvoll. »Na ja, Ryu, vielleicht kannst du ja aus den Eintragungen noch mehr herauslesen. Außerdem ist Gus auf dem Weg hierher, weil Anyan so umsichtig war, auch das hier sicherzustellen«, fuhr Nell fort und zeigte auf einen großen, gezackten Stein aus Quarz, der auf einer Ausgabe der National Geographic am Wohnzimmertisch lag.
Ich erblasste, als ich erkannte, um was es sich dabei handelte: Es war der Stein, mit dem Peter der Schädel eingeschlagen worden war.
»Gute Arbeit«, sagte Ryu zu Anyan gewandt, und ich bildete mir ein, dass er noch ein »Sir« hinterherschickte.
Vielleicht rührte das angespannte Verhältnis der beiden daher. Ryu war Anyans Untergebener gewesen, und nun standen sie auf der gleichen Stufe. Das war sicher keine besonders angenehme Situation für beide. Ich blickte neugierig von Ryu zu dem Barghest, als könnte ich ihnen, indem ich sie miteinander verglich, ihre Rätsel entlocken.
Als Ryu daraufhin meine Hand ergriff, hörten wir Schritte
draußen auf dem Kiesweg, und Anyan sprang auf, um den Neuankömmling zu begrüßen. Es war Gus. Seine Bewegungen waren so behäbig wie immer, und seine Augen hinter den dicken Brillengläsern wirkten abwesend.
Er begrüßte uns alle mit einem kurzen Nicken und starrte mich und Ryu einen Moment lang mit irritierend blinzelndem Blick an. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit dem Stein auf dem Tisch zu. Er trat so vorsichtig auf ihn zu, wie andere vielleicht auf ein misshandeltes Tier zugehen würden. Behutsam nahm er den Stein in die Hand und fing an, ihn sanft zu streicheln und murmelte beruhigend auf ihn ein, als müsse er verhindern, dass er sich erschreckte.
Ich erschauderte. Beim Anblick, wie Gus mit dem Stein umging, wurde mir ganz mulmig. Es war nicht nur sehr eigenartig, sondern es klebte auch noch immer Blut - und ich malte mir aus, auch noch Gehirnmasse - an ihm. Jedenfalls war der Stein nichts, das man für gewöhnlich streicheln, sondern lieber desinfizieren möchte.
Ryu drückte meine Hand.
»Gus, mein Lieber«, drängte Nell ihn sanft. »Kannst du uns schon irgendetwas dazu sagen?«
Gus blickte auf, und ich bemerkte, dass ihm Tränen in den Augen standen. »Oh, es ist ganz schrecklich«, sagte er. »Sie hat alles mit ansehen müssen. Sie ist noch immer ganz geschockt.«
Das war zu viel für mich. Ich konnte mir ein spöttisches Prusten nicht verkneifen. Entweder das, oder ich hätte schreiend davonlaufen müssen.
Gus drehte sich abrupt zu mir um. So schnell hatte er sich noch nie bewegt. »Das ist überhaupt nicht lustig«, zischte er
wütend. »Wie würdest du es finden, wenn man dich dazu verwenden würde, jemandem den Schädel einzuschlagen?«
Ich schaute hilflos zu Ryu hinüber. Ich glaube, ich war etwas hysterisch, und ich musste mich wirklich zusammennehmen und mir buchstäblich auf die Zunge beißen, damit ich nicht in schallendes Lachen ausbrach.
Ryu nahm die Situation in die Hand. »Gus, Jane meint das nicht als Angriff. Unsere Welt ist ihr ganz neu. Hab ein wenig Geduld mit ihr.«
Seine Worte beruhigten mich, und ich nickte Gus feierlich zu.
»Wir müssen wissen, was der Stein uns sagen kann. Hat sie eine Ahnung, wer mit ihm zugeschlagen hat?«, mischte Nell sich wieder ein.
Gus blickte den Stein lange und so voller Mitleid an, dass ich anfing, ihn etwas ernster zu nehmen. »Tut mir leid«, sagte er schließlich. »Sie kann Menschen nicht auseinanderhalten.« Seine nächsten Worte wählte er mit Bedacht: »Für sie sind alle Menschen nur hässliche Wassersäcke.«
Irritiert flüsterte ich Ryu zu: »Stammt der Satz nicht aus einer Folge von Star Trek ?« Doch er bedeutete mir zu schweigen.
»Aber sie würde den Mörder an seinem Geruch erkennen. Wir Steine haben einen ausgesprochen guten Geruchssinn und ein großes Erinnerungsvermögen«, sagte Gus und schnüffelte, als wolle er dem Gesagten damit Nachdruck verleihen.
Ich erschauderte bei dem Gedanken, dass die Felsen in meiner Bucht mich jedes Mal am Geruch erkannten, wenn ich an ihnen vorbeiging …
»Danke dir, Gus«, sagte Nell. »Das ist vorläufig alles.«
»Darf ich sie mitnehmen?«, fragte Gus und zeigte auf den Quarzstein. Da schaltete Ryu sich ein und sagte: »Nein, tut mir leid. Wir brauchen sie später vielleicht noch. Aber wenn das alles hier vorbei ist, dann
Weitere Kostenlose Bücher