Nachtstürme - Peeler, N: Nachtstürme - Tempest Rising
…?«
Am Abend kam Ryu zum Essen, also war ich froh, dass wir uns für Steak entschieden hatten. Als ich meinen Hals und meine Handgelenke nach Spuren der letzten Nacht untersuchte, wurde mir klar, warum ich Lust auf eisenhaltige Kost hatte. Trotz meines außergewöhnlich großen Appetits gab es kaum äußerliche Zeichen dafür, dass ich es mit einer blutsaugenden Kreatur der Nacht trieb. Abgesehen von so gut wie unsichtbaren kleinen blauen Flecken an meinem Hals und meinen Handgelenken hatten Ryu und meine leidenschaftliche Affäre keine sichtbaren Spuren bei mir hinterlassen.
Beim Abendessen unterhielten sich mein Vater und Ryu über Poker, und ich war froh, nicht selbst für Gesprächsstoff sorgen zu müssen. Mein Vater liebte Poker und schaute es sich sogar im Fernsehen an, was ich für ungefähr
so spannend hielt, wie Farbe beim Trocknen zuzusehen. Aber aus irgendeinem Grund war ich gar nicht überrascht, dass Ryu sich genauso sehr dafür begeistern konnte. »Ich wette, er hat ein super Pokerface«, dachte ich, als er mich dabei ertappte, wie ich ihn ansah, und mir ein breites Lächeln zuwarf.
Ich lächelte zurück, und in dem Moment wurde mir erst richtig klar, wie froh ich darüber war, dass er Rockabill noch nicht so bald verlassen musste. Mir war so, als konkretisiere sich mit jeder Minute, die ich länger mit Ryu verbrachte, eine neue Jane am Horizont. »Vielleicht«, dachte ich, »bleibt er ja so lange, dass sich die neue Jane so sehr festigt, dass ich einfach in sie hineinspringen und die alte Jane zurücklassen kann.« Einen Moment lang träumte ich davon, dass die neue Jane auch noch dünnere Oberschenkel hatte …
Als wir mit dem Essen fertig waren, half mir Ryu noch, den Geschirrspüler einzuräumen, bevor wir uns von meinem Vater verabschiedeten. Dann stiegen wir ins Auto und fuhren vorbei an Nick und Nans altem Gästehaus, das mittlerweile ein kleines Luxushotel war und von Stuarts Eltern geführt wurde, hinaus in den wilden Norden von Rockabill.
Wir hielten vor einer hübschen Blockhütte, die rundherum von einer Veranda umgeben war. Dort saß Nell in ihrem kleinen Schaukelstuhl und sah Trill und Anyan dabei zu, wie sie davor Frisbee spielten. Bei dem Anblick musste ich lächeln. Ich sah, wie der riesige Hund einen großen Satz machte, um die Frisbeescheibe mit dem Maul zu fangen. Trill war eine gute Werferin, und wenn Anyan das Spielgerät
nicht gefangen hätte, dann hätte sie damit wohl die Spitze des Baums hinter ihm abgesäbelt. Trill lächelte mich zur Begrüßung an, und Anyan wedelte mit dem Schwanz, kam aber nicht zu mir herüber.
Wir erklommen die Veranda, auf der Nell vor sich hin schaukelte.
»Schön, dich wiederzusehen, mein Kind«, begrüßte sie mich und sah Ryu daraufhin prüfend an. »Du siehst sehr zufrieden mit dir selbst aus, Jungling«, sagte sie dann. Er lächelte sie verschmitzt an und verbeugte sich höflich.
Als wir das Blockhaus betraten, bewunderte ich die elegante, aber gemütliche Einrichtung. Das Erste, was mir jedoch auffiel, war der Geruch, denn es duftete ganz köstlich nach Zitronat und Kardamom. Erst dann bemerkte ich all die Kunstwerke. Überall auf und zwischen den antiken, geschmackvollen Möbeln standen erstaunliche Skulpturen. Ich hoffte, dass ich irgendwann einmal Gelegenheit haben würde, sie mir genauer anzusehen, doch im Moment war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Aber auf dem Weg zur Sitzecke sah ich mich so gut es ging um. Die Küche war überraschend modern. Kühlschrank und Herd waren auf dem neuesten Stand. Ich ging davon aus, dass das Haus Nell gehörte, allerdings fragte ich mich, wie sie an die Herdplatten reichte. Da ich es jedoch für unhöflich hielt, sie danach zu fragen, sah ich mich verstohlen nach einem Schemel um, während Ryu und ich uns auf das üppige Ledersofa setzten. Trill legte sich uns zu Füßen, und Nell schob ihren kleinen Schaukelstuhl von draußen herein und nahm uns gegenüber Platz. Anyan legte sich auf die Schwelle, halb im Haus, halb auf der Veranda, so
weit von Ryu und mir entfernt wie nur möglich, wie mir schien.
Nell nickte Anyan zu, der daraufhin leicht zusammenzuckte, und sagte: »Während ihr euch vergnügt habt, ist Anyan sehr fleißig gewesen. Die Leiche ist beseitigt, und er hat auch Gretchens persönliche Gegenstände sichergestellt. Ihre Aktentasche wurde vom Feuer nur leicht beschädigt, aber ihre Akten und ihr Geschäftsterminplaner waren bereits entfernt worden. Der Mörder hat nur ihren
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