Nachtwelt (German Edition)
der Fahrt, vom Fähranleger in Wittdünn nach Nebel, ist nur das gleichmäßige Geklapper der Pferdehufe zu hören. Die Gäste genießen schweigend die Inselfahrt, die sie an Reet gedeckten Häuschen vorüber führt.
Vor der schlichten, weißen Kirche halten die Kutschen. Die Hochzeitsgäste versammeln sich vor dem Eingang, wo ihnen von drei jungen Frauen und drei jungen Männern, die die hiesige Amrumer Tracht tragen, Sekt gereicht wird.
Nachdem der Stock ihnen mitgeteilt hat, dass noch eine ¾ Stunde Zeit bleibt, bis die Trauung beginnt, verteilt sich die Gesellschaft auf dem Kirchengelände. Einige sitzen auf Bänken und genießen, mit geschlossenen Augen, die Frühlingssonne. Andere schlendern über den Friedhof. In diesem Moment sind sich Leben und Tod sehr nah.
Mimi steht vor einem der alten Grabsteine und versucht zu entziffern, was dort geschrieben steht. Ein Seemann muss hier seine letzte Ruhe gefunden haben, da über der Inschrift ein großer Schoner eingemeißelt wurde. Plötzlich steht ein kleiner Junge neben ihr und zieht ihr am Rock. „Bist du Mimi?“, will der Kleine wissen. Als sie nickt, sagt der Knirps: „Du sollst mal mitkommen.“
Schon hat der kleine Mann ihre Hand gegriffen und zieht sie hinter sich her. Der Junge ist kaum älter als sechs Jahre, scheint aber genau zu wissen wo es hingehen soll.
„Wo willst du denn mit mir hin?“
„Zu der schönen Frau.“
Na ja, denkt Mimi , wäre ja auch ein Wunder, wenn ein schöner Mann nach mir verlangte.
Der Junge wechselt die Straßenseite und hält sich links, in Richtung Ortsausgang. Dann, nach nicht einmal hundert Metern, bleibt der Kleine vor einem blau gestrichenen Gartentor stehen und sagt: „Da musst du rein.“
„Die Frau muss ja wirklich hübsch sein, wenn du so nett bist und ihr hilfst, mich hierher zu bringen.“
„Ja ist sie und außerdem hat sie mir zwei Euro gegeben.“
Typisch Mann, denkt Mimi, während sie das Gartentor aufstößt. Und da steht sie, inmitten des riesigen Gartens, neben einem der vielen Obstbäume. Mehr als ein Unglaublich bekommt Mimi nicht heraus.
Petra rennt auf sie zu und drückt sie: „Gott sei dank, du bist hier. Was macht deine Verletzung?“
Mimi schüttelt verständnislos den Kopf: „Wo bitte sollte ich an diesem Tag sein, wenn nicht hier. Und woher weißt du, dass ich mir wehgetan habe.“
„Als ich heute Morgen aufwachte hatte ich auf einmal Sorge, dass du, aus irgendeinem Grund, nicht kommen würdest.“
„Never!!“
„War wohl auch bloß so ein blödes Gefühl. Ja, äh, deine Verletzung?“, Petra überlegt. „Ach, Michi und Andy haben mich angerufen, um mir Glück und nicht enden wollende Liebe zu wünschen. Sie sagten, sie hätten dich heute früh gesehen, um dir mein Geschenk zu geben. Bei der Gelegenheit haben sie erzählt, dass du aus dem Bett gefallen bist und dir die Rippen geprellt hast. Soll Ben sich das angucken?“
„Nee, der ist doch kein Arzt, der ist Anästhesist. Außerdem spielen meine Rippen jetzt keine Rolle. Lass dich ansehen.“
Mimi ist ein paar Schritte zurückgegangen, um Petra besser ansehen zu können. Die trägt ein schlichtes, gerade geschnittenes Kleid aus naturfarbener Wildseide, dass ihr bis zu den Knien reicht. Über das Hochzeitskleid hat sie eine knöchellange Weste gezogen. Der Stoff der Weste unterscheidet sich von dem Stoff des Kleides durch zarte, goldene Fäden, die in die Seide eingewoben wurden. In der Taille wird die Weste von einer kreisrunden Schnalle zusammengehalten. Dies ist der einzige Berührungspunkt der Westenkanten, so dass weder das Hochzeitskleid, noch Petras schöne, lange Beine verdeckt werden. In ihr kurzes Haar sind kleine Perlen eingeflochten.
Die Braut strahlt über das ganze Gesicht: „Und? Was sagst du?“
„Du siehst fantastisch aus. Als kämst du nicht von dieser Welt.“
„Wie findest du die Schnalle, mit der die Weste geschlossen wird“, will Petra wissen.
Mimi hat schon die ganze Zeit auf das goldene Schmuckstück geschaut. Es erinnert sie an irgendetwas, aber sie weiß nicht woran. Eine Sonne und ein Mond greifen so ineinander, dass sie ein Rund bilden. Die filigrane Goldschmiedearbeit ist außergewöhnlich.
„Perfekt“, sagt Mimi.
Die Glocken der Kirche fangen an zu läuten.
„Du musst los“, sagt Petra. „Wir sehen uns gleich.“
Mimi hat ihren Platz in einer der vorderen Reihen eingenommen. Die Kirchenbänke sind in friesenblau gestrichen, der Altarbereich
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