Nachtwesen - Die Vollstreckerin
das Kästchen nicht mehr hier stand? Würde sie die Tür überhaupt noch einmal finden? Da! Kühles Metall unter ihren Fingern. Sachte strich sie darüber und erfühlte den leicht überstehenden Deckel. Vorsichtig klappte sie ihn hoch und suchte im Inneren des Kästchens nach den Hölzern. Zum Glück wurde sie fündig. Schnell nahm sie eines heraus und rieb es ein paar Mal an der rauen Innenseite des Deckels. Ein Funke glimmte auf und entzündete die Spitze. Zufrieden hob sie das brennende Hölzchen und sah sich um.
Unmittelbar vor ihr schälte sich ein Gesicht aus der Dunkelheit. Finstere Augen musterten sie eindringlich, fremde Augen. Zu Tode erschrocken machte sie einen Satz rückwärts, während ein spitzer Schrei über ihre Lippen kam. Das Zündholz entglitt ihren zitternden Fingern und erlosch sofort, noch bevor es den Boden berührte. Stille... Den Umhang mit beiden Händen vor der Brust umklammernd, bewegte sie sich rückwärts zur Tür hin.
Das Blut rauschte in ihren Ohren, als ihre Schultern die Wand berührten. Vielleicht konnte sie ja...
Ein leises kratzendes Geräusch erklang und kurz darauf wurde es wieder hell. Neben dem Tisch stand ein Mann und hielt ein Zündholz hoch. Dann flammte auf dem Tisch der Docht einer dicken, schwarzen Kerze auf und tauchte die nähere Umgebung in gedämpftes Licht. Kyrana atmete nicht, bewegte sich nicht, zuckte nicht einmal mit den Wimpern. Der Schock ließ sie wie angewurzelt verharren.
Eisiger Atem wehte zwischen den Lippen des Mannes hervor als er das Hölzchen ausblies. Dann wandte er seinen Blick wieder ihr zu. "Was suchst du hier, Mensch?" Er war groß, schlank und trug ein weinrotes Gewand, welches ihm, in der Taille mit einem breiten Gürtel zusammen gehalten, bis zu den Knien ging. Darunter sah man eng anliegende schwarze Beinkleider. Sein Haar war golden, ja wirklich, und wohl im Nacken zu einem Zopf zusammen gebunden. Schwarz wie die Finsternis selbst, bohrten sich seine Augen in Ihre, während er langsam auf Kyrana zu schritt.
Mochten die Götter ihr nicht eine gnädige Ohnmacht schicken und sie so aus dieser aussichtslosen Lage befreien? Sie taten es nicht und so setzte sie stammelnd zu einer Antwort an: "Meine Mutter...ähm, ich soll...muss sie vertreten. Sie ist krank geworden." Dümmer konnte eine Ausrede nicht sein. Sie wusste nicht einmal, wo sich der Staubwedel befand. Außerdem war es tiefe Nacht.
Neben ihr stehen bleibend, fasste der Fremde mit kalter Hand nach ihrem Oberarm und führte die Widerstandslose zu der Sitzgruppe zurück. Dort drückte er sie in einen Sessel und sah auf sie hinab. "Wie heißt deine Mutter, Mensch?" Wer war er überhaupt? Und was machte er hier? War dies nicht Kelmars Anwesen?
Schon regte sich in ihrem jugendlichen Leichtsinn trotziges Aufbegehren in ihr. Vorsichtig und ohne ihn aus dem Blick zu lassen, setzte sie sich gerade hin und schob die Kapuze von ihrem Kopf. Ein Funke von Aufmüpfigkeit war in ihren roten Augen zu erkennen, als sie mit wesentlich festerer Stimme nun ihrerseits fragte: "Wie heißt Ihr denn, Herr? Und wo ist Kelmar?" Er sollte ja nicht denken, sie wäre fremd in diesem Mauern!
Schweigend ließ er seine Augen über ihr Haar wandern und griff, ohne sie um Erlaubnis zu fragen, nach einer einzelnen Strähne, welche er langsam durch seine Finger gleiten ließ. Aha, nun fehlten ihm wohl die Worte! Um seine Eindrücke noch zu vervollkommnen, griff sie in ihren Halsausschnitt und platzierte den Anhänger ihrer Kette gut sichtbar auf ihrem zart gelben Gewand. Es schien, dass sie langsam Herrin der Lage wurde! Wie trügerisch diese Hoffnung war, zeigte sich umgehend, nachdem der Fremde einen kurzen Blick auf den Anhänger geworfen hatte.
Wieder ergriff er ihren Arm und zog sie aus dem Sessel hoch. Seine Augen funkelten böse, als er sie rüde aus dem Zimmer schob. Gerade noch konnte sie ihren Saum hochraffen, um bei dem groben Schubs nicht zu stolpern. Fest presste sie die Lippen zusammen, während er sie durch den langen Gang zu einer weiteren Tür verfrachtete. Ohne anzuklopfen riss er diese auf und zerrte Kyrana hinter sich her über die Schwelle.
Ein Zimmer tat sich vor ihnen auf, in dessen Mitte man im Licht der Kerzen einen zierlichen Tisch, umrundet von eleganten Sesseln, ausmachen konnte. Helle Holzregale und -truhen säumten die Wände. An der Wand, welche der Tür gegenüber lag, stand eine breite Couch und auf jener saß Kelmar.
Kyranas junges Herz machte einen freudigen Hüpfer bei seinem
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