Nachtwesen - Die Vollstreckerin
Kein Nachtwesen hat das Recht, ungestraft ein anderes zu töten. Niemals.“ Seine Augen leuchteten unheilvoll, als er nun die Silberaxt hob. „Niobe Xyn wird gerichtet werden – und zwar mit ihrer eigenen Mordwaffe. Wir werden sie suchen und finden.“
Beifälliges Nicken und Raunen erhob sich und schwoll immer mehr an, während die Obersten still an ihren Plätzen standen. Nur ihre Blicke wanderten über die Zuschauer und blieben kurz an dem einen oder anderen Gesicht haften. Kyrana erhob sich. Ohne dass sie auch nur ein Wort sagen musste, machte man ihr den Weg frei, bis sie vorne neben Merian, Lynn, Alyiena und Kayo stand. „Ich werde es tun“, sprach sie klar in die plötzlich aufgekommene Stille.
„Niobes Kopf wird rollen. Gleich morgen Nacht breche ich mit dem nächsten Schiff auf.“ Voller gespannter Erwartung richteten sich alle Augen auf die vier Obersten. Ein Jeder hier wusste, dass Kyrana Kelmars Schülerin war und immer in besonders engem Verhältnis zu ihm gestanden hatte. Keiner schien etwas dagegen einzuwenden zu haben, dass genau ihr die Rolle der Vollstreckerin übertragen werden sollte. Doch die schlussendliche Entscheidung lag bei den Obersten.
Jene tauschten einige Blicke und schienen sich einer stummen Absprache hinzugeben. Bis Merian schließlich nickte. „So soll es sein“, verkündete er laut. „Kyrana Yiory wird das Urteil vollstrecken! Sie wird die Suche nach der Verurteilten aufnehmen und erst ablassen, wenn sie der Gerechtigkeit Genüge getan hat!“
*
Es war Zeit, Abschied zu nehmen - Abschied von Kelmar und allem, was sie mit ihm verband. Träume, Hoffnungen, Gefühle. Nach der Verhandlung hatten die vier Obersten seinen Körper und Kopf hinaus getragen und in einiger Entfernung ins Gras gebettet. Dann waren sie zusammen mit den Zuschauern in Richtung der Anwesen aufgebrochen – festen Schrittes und ohne einen Blick zurückzuwerfen.
Kyrana war geblieben. Im Schutze des schattigen Höhleneinganges saß sie unbeweglich und wartete den Sonnenaufgang ab. Sie würde Kelmar nicht verlassen, sondern in seinen letzten Stunden bei ihm sein. Er hätte dasselbe für sie getan; da war sie sich ganz sicher. Den Blick unverwandt auf seine Überreste gerichtet, nahm sie wahr, wie sich die Nacht langsam ihrem Ende zuneigte und erste Sonnenstrahlen zwischen den Bäumen hindurch krochen. Unaufhaltsam und endgültig.
Als jene den Leichnam schließlich erreichten und sich gnadenlos darüber hinweg fraßen, währte es nicht lange, bis er Feuer fing. Zuerst stieg Qualm auf, welcher von kleinen, züngelnden Flammen auf der Robe genährt war. Mehr und mehr wuchsen sie empor, bis Kelmars gesamter Körper brannte und sich nach und nach in tanzende Asche auflöste. Übrig blieb...nichts. Ohne äußerliche Regung beobachtete Kyrana die Szenerie. Doch in ihrem Inneren brannte ein Schmerz, den sie wohl nie in Worte würde fassen können.
Sie saß solange dort, bis die Sonne den Höhleneingang erreichte. Dann erst zog sie sich in den hintersten Winkel des Inneren zurück, um den Abend abzuwarten. Ihr Herz war schwer und ihr Kopf voller Rachegelüste, doch keine Träne wollte mehr aufkommen. Der lähmende Schmerz in ihr überlagerte alles andere.
*
In der darauffolgenden kalten Nacht waren an der Küste des kleinen Städtchens Nocrya all jene versammelt, welche der Abreise der Vollstreckerin beiwohnen wollten. Ihre schwarzen Umhänge bewegten sich im Wind, der über das Meer an Land wehte. Ihre Gesichter waren im fahlen Schein der Fackeln unter den tief sitzenden Kapuzen nicht zu erkennen. Still standen sie um den kurzen Steg herum, an dessen Fuße ein kleines Boot auf den Wellen tanzte.
Es wartete darauf, seine einzige Passagierin zu dem Segelschiff hinüber zu bringen, das weiter draußen nur als schemenhafter Umriss in den dunklen Wogen zu sehen war. Die Menge teilte sich murmelnd, als Kyrana in Sicht kam und sich dem Steg näherte. Fest waren die Schritte ihrer nackten Füße und ihre ganze Haltung ließ keinen Zweifel darüber, dass sie ihre Mission erfüllen würde. Vor den Holzplanken blieb sie stehen und sah sich um, als wartete sie auf etwas. Dann strich sie mit gelassener Bewegung die Kapuze ihres Umhanges zurück und gab den Blick auf ihr langes, weißes Haar frei. Wie ein Schleier rahmte es ihr elfenbeinfarbenes Gesicht ein.
Suchend blickten ihre glashellen Augen umher, bis sie schließlich auf Merian zur Ruhe kamen, welcher langsam aus der Menge heraus auf sie zu trat. Ohne dass
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