Nachtwesen - Die Vollstreckerin
erdenkliche Art zu deuten. Womöglich hatte sie ihn falsch verstanden.
Oder etwas gehört, was ganz anders gemeint war. Vielleicht wünschte sie sich einfach viel zu sehr, ihn für sich zu haben und er hatte nur Mitleid. Immerhin war sie mit ihrem Geständnis, ihn zu lieben, regelrecht herausgeplatzt. Zweifel kamen auf, wuchsen – und wurden wieder verworfen. Konnte sie sich so sehr täuschen? Hatte sie nicht in seine Augen gesehen und dort nur wahre Gefühle gefunden?
Und dann dieser Kuss... Was sprach dagegen, dass sie nicht endlich einmal Glück haben sollte? Nichts! Alles würde gut werden. Oder etwa doch nicht? Je mehr sie grübelte und sich Fragen stellte, um diese sogleich zu beantworten und die Antworten sofort wieder zu verwerfen, umso unsicherer wurde sie. Als der Nachmittag sich dem Abend näherte, war sie nur mehr ein Nervenbündel. Doch galt es nun, sich und ihr kleines Reich auf Kelmars Besuch vorzubereiten.
Also verbannte sie entschlossen alle Vermutungen und Zweifel aus ihren Gedanken und widmete sich zunächst dem Zimmer. Peinlich genau räumte sie alles auf und strich Minutenlang die Decke auf ihrem Bett glatt. Dann eilte sie in den Keller des Anwesens, wo die Vorräte gelagert waren und deckte sich mit weißen Kerzen ein. Weiß war die Farbe der Unschuld. Diese Kerzen würden Kelmar das Wissen vermitteln, dass sie rein war wie ein unbeflecktes Laken.
Dass sie auf ihn gewartet hatte. Immer. Ihr ganzes Leben lang, bis heute. Ein Lächeln der Vorfreude lag auf Kyranas Lippen, als sie die Kerzen schließlich überall im Zimmer verteilt und angezündet hatte. Zufrieden betrachtete sie ihr Werk – es würde ihm sicherlich gefallen. Das Flackern der Kerzen vermischte sich mit den züngelnden Flammen des Kamins und warf tanzende Schatten an Wände und Decke. Es war ein würdiger Rahmen für ein wichtiges Gespräch, so befand sie. Als die Sonne endlich vollends untergegangen war, öffnete sie die schweren Vorhänge und sah hinaus in die aufkommende Nacht.
Nicht mehr lange und Kelmar würde da sein. Grund genug, den wichtigsten Teil der Vorbereitungen in Angriff zu nehmen – die Kleiderfrage. Heute galt es, ganz besonders hübsch auszusehen. Es währte nicht lange und auf ihrem makellos glattgestrichenen Bett stapelten sich Roben und Kleider, Oberteile und Röcke. Kyrana stand davor und war ratlos. Noch nie hatte sie sich für ein Treffen mit einem Herrn angezogen und dementsprechend unsicher glitten ihre Augen über die Auswahl.
Auf keinen Fall wollte sie zu aufreizend erscheinen – eher neutral und unaufdringlich, denn immerhin wusste sie noch nicht, wie das Gespräch letztendlich verlaufen würde. Nicht auszudenken, wenn Kelmar kam, um ihr eine sanfte Abfuhr zu erteilen und sie sah aus, als wäre sie gewillt, ihn in ihr Bett zu nötigen. Ein nervöses Lachen entfuhr ihr bei der Vorstellung. Unauffällig und ein Wenig elegant, so wollte sie aussehen. Schließlich sollte er stolz auf sie sein.
Also entschied sie sich endlich für eine schlichte weiße Robe, hochgeschlossen und schmucklos. Die schmale Taille wurde von einem breiten, schwarzen Samtgürtel betont, dessen Bänder locker hinab fielen und auf Höhe der Knie endeten.
Auf Schuhwerk verzichtete sie, so wie sie es immer tat. Kelmar kannte sie nur barfuß und würde sich sicher wundern, wenn sie plötzlich in Schuhen daherkäme. Als Kyrana schließlich vor ihrem Spiegel stand und sich ihr Haar kämmte, war sie zufrieden mit ihrem Anblick. Erstaunt stellte sie fest, dass sie sich tatsächlich hübsch fand, so zart und zerbrechlich wie sich ihr Spiegelbild darbot.
Nun galt es nur noch, zu warten. Es war kein fester Zeitpunkt für Kelmars Besuch vereinbart, sodass er jeden Moment durch die Tür kommen konnte. Ein letzter Blick in die Runde zeigte, dass alles zu ihrer Zufriedenheit hergerichtet war – also nahm sie in einem kleinen Sessel am Fenster Platz und legte die Hände im Schoß übereinander.
Sie saß noch nicht lange, als es klopfte. Ein freudiger Schimmer trat in ihre Augen und sie strich sich schnell noch einmal mit den Händen über ihre Robe. „Herein!“ Die Tür öffnete sich und Merian betrat das Zimmer. Verwundert hob er seine Augenbrauen, nachdem er sich umgesehen hatte. „Ich störe dich doch nicht bei...was auch immer?“, erkundigte er sich ein Wenig belustigt. „Ist heute ein besonderer Tag? Gibt es etwas zu feiern, von dem ich noch nichts weiß?“
Verlegen drehte Kyrana eines ihrer Gürtelbänder in den Fingern
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