Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
denn von ihnen eigentlich erwartet? Menschen, die ihr Leben unter der unbarmherzigen Herrschaft von Schmerzen leben müssen, sind oft darüber enttäuscht, wie sich die anderen verhalten, auch diejenigen, die bei ihnen ausharren und ihnen die Mittel einflößen. Es ist zu wenig, was sie tun und sagen, und auch zu wenig, was sie fühlen. »Was erwarten Sie denn?« frage ich. Sie können es nicht sagen und sind bestürzt darüber, daß sie jahrelang eine Erwartung mit sich herumgetragen haben, die enttäuscht werden konnte, ohne daß sie Näheres über sie wußten.
Einer, der wirklich wissen möchte, wer er ist, müßte ein ruheloser, fanatischer Sammler von Enttäuschungen sein, und das Aufsuchen enttäuschender Erfahrungen müßte ihm wie eine Sucht sein, die alles bestimmende Sucht seines Lebens, denn ihm stünde mit großer Klarheit vor Augen, daß sie nicht ein heißes, zerstörerisches Gift ist, die Enttäuschung, sondern ein kühler, beruhigender Balsam, der uns die Augen öffnet über die wahren Konturen unserer selbst.
Und es dürfte ihm nicht nur um Enttäuschungen gehen, welche die anderen oder die Umstände betreffen. Wenn man Enttäuschung als Leitfaden hin zu sich selbst entdeckt hat, wird man begierig sein zu erfahren, wie sehr man über sich selbst enttäuscht ist: über fehlenden Mut und mangelnde Wahrhaftigkeit etwa, oder über die schrecklich engen Grenzen, die dem eigenen Fühlen, Tun und Sagen gezogen sind. Was war es denn, was wir von uns erwartet und erhofft hatten? Daß wir grenzenlos wären, oder doch ganz anders, als wir sind?
Es könnte einer die Hoffnung haben, daß er durch das Vermindern von Erwartungen wirklicher würde, auf einen harten, verläßlichen Kern schrumpfte und damit gefeit wäre gegen den Schmerz der Enttäuschung. Doch wie wäre es, ein Leben zu führen, das sich jede ausgreifende, unbescheidene Erwartung verböte, ein Leben, in dem es nur noch banale Erwartungen gäbe wie die, daß der Bus kommt?
»Ich habe niemanden gekannt, der sich so hemmungslos in seinen Träumereien verlieren konnte wie er«, sagte Eça. »Und der es so haßte, enttäuscht zu werden. Was er hier schreibt – er schreibt es gegen sich selbst . Wie er auch oft gegen sich selbst gelebt hat. Jorge würde das bestreiten. Haben Sie Jorge kennengelernt? Jorge O’Kelly, den Apotheker, in dessen Geschäft Tag und Nacht das Licht brennt? Er kannte Amadeu viel länger als ich, viel länger. Trotzdem.
Jorge und ich… nun ja. Einmal haben wir eine Partie gespielt. Ein einziges Mal. Remis. Aber wenn es um das Planen von Operationen ging und besonders um raffinierte Täuschungen, da waren wir ein unschlagbares Team, wie Zwillinge, die sich blind verstehen.
Amadeu war eifersüchtig auf dieses blinde Verständnis, er spürte, daß er mit unserer Verschlagenheit und Skrupellosigkeit nicht mithalten konnte. Eure Phalanx nannte er unser Bündnis, das manchmal auch ein Bündnis des Schweigens war, sogar ihm gegenüber. Und dann spürte man: Er hätte sie gern durchbrochen, diese Phalanx. Dann stellte er Vermutungen an. Manchmal traf er ins Schwarze. Und manchmal lag er vollständig daneben. Besonders wenn es um etwas ging, das ihn… ja, ihn selbst betraf.«
Gregorius hielt den Atem an. Würde er jetzt etwas über Estefânia Espinhosa erfahren? Er konnte weder Eça noch O’Kelly danach fragen , das war ausgeschlossen. Hatte sich Prado am Ende geirrt? Hatte er die Frau vor einer Gefahr in Sicherheit gebracht, die gar nicht bestand? Oder hatte Eças Zögern einer ganz anderen Erinnerung gegolten?
»Ich habe die Sonntage hier immer gehaßt«, sagte Eça beim Abschied. »Kuchen ohne Geschmack, Schlagsahne ohne Geschmack, Geschenke ohne Geschmack, Floskeln ohne Geschmack. Die Hölle der Konvention. Aber jetzt… die Nachmittage mit Ihnen… ich könnte mich daran gewöhnen.«
Er nahm die Hand aus der Jackentasche und streckte sie Gregorius entgegen. Es war die Hand mit den fehlenden Fingernägeln. Gregorius spürte ihren festen Druck noch auf der ganzen Schiffahrt.
DRITTER TEIL
Der Versuch
24
Am Montag morgen flog Gregorius nach Zürich. Er war in der Morgendämmerung aufgewacht und hatte gedacht: Ich bin dabei, mich zu verlieren . Es war nicht so gewesen, daß er zuerst aufgewacht wäre und diesen Gedanken dann aus einer neutralen Wachheit heraus gedacht hätte, einer Wachheit, die auch ohne ihn Bestand gehabt hätte. Es war umgekehrt gewesen: Erst war der Gedanke dagewesen und dann die
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