Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
stumme Gegenwart oft als richtend empfunden, als richterlich und sogar als gerichtlich.
Ihr seid – stelle ich mir vor – ein gerechter Richter, erfüllt und bestimmt von Wohlwollen, kein Richter, dessen harte, unversöhnliche Urteile dem Groll über die Entbehrungen und das Mißlingen des eigenen Lebens entspringen, und auch nicht dem verleugneten schlechten Gewissen wegen geheimer eigener Verfehlungen. Ihr schöpft den Spielraum der Nachsicht und Milde, den das Gesetz Euch läßt, aus. Trotzdem habe ich stets darunter gelitten, daß Du einer bist, der über andere zu Gericht sitzt. »Sind Richter Leute, die andere ins Gefängnis schicken?« fragte ich Dich nach dem ersten Schultag, wo ich öffentlich auf die Frage hatte antworten müssen, welchen Beruf der Vater hatte. Darüber nämlich sprachen die anderen in der Pause. Was sie sagten, klang nicht verächtlich oder anklagend; eher sprachen daraus Neugierde und Sensationslust, die sich kaum von der Neugierde unterschieden, die aufkam, als ein anderer Schüler sagte, sein Vater arbeite im Schlachthaus. Von da an habe ich alle möglichen Umwege in Kauf genommen, um nie mehr am Gefängnis vorbeigehen zu müssen.
Ich war zwölf, als ich mich an den Wachen vorbei in den Gerichtssaal schlich, um Euch in der Robe hinter dem erhöhten Richtertisch sitzen zu sehen. Damals wart Ihr ein gewöhnlicher Richter und noch nicht beim Obersten Gericht. Was ich empfand, war Stolz, und zugleich war ich zutiefst erschrocken. Es ging um eine Urteilsverkündung, das Urteil betraf eine gewohnheitsmäßige Diebin, und das Urteil lautete auf Gefängnis, der Wiederholung wegen ohne Bewährung. Die Frau war im mittleren Alter, verhärmt und häßlich, kein Gesicht, das für sich einnehmen konnte. Trotzdem zog sich alles in mir zusammen, jede einzelne Zelle, schien mir, wurde von Krampf und Starre befallen, als sie abgeführt wurde und in den Katakomben des Gerichts verschwand, die ich mir finster, kalt und feucht vorstellte.
Ich fand, daß der Verteidiger seine Sache nicht gut machte, ein Pflichtverteidiger vermutlich, der seine Sätze lustlos herunterspulte, man erfuhr nichts über die Gründe der Frau, sie konnte sich nicht erklären, es würde mich nicht wundern, wenn sie eine Analphabetin war. Später lag ich im Dunkeln wach und verteidigte sie, und es war weniger eine Verteidigung gegen den Staatsanwalt als eine Verteidigung gegen Euch. Ich redete mich heiser, bis mir die Stimme versagte und der Strom der Worte versiegte. Am Ende stand ich mit leerem Kopf vor Euch, gelähmt von einer Wortlosigkeit, die mir wie eine wache Bewußtlosigkeit erschien. Als ich aufwachte, wurde mir klar, daß ich mich am Schluß gegen eine Anklage verteidigt hatte, die Ihr nie erhoben hattet. Ihr habt mir, Eurem vergötterten Sohn, nie etwas Schwerwiegendes vorgeworfen, kein einziges Mal, und manchmal denke ich, daß ich alles, was ich tat, aus diesem einen Grunde tat: um einer möglichen Anklage, die ich zu kennen schien, ohne etwas von ihr zu wissen, zuvorzukommen. Ist das nicht letzten Endes auch der Grund, warum ich Arzt geworden bin? Um das Menschenmögliche gegen die teuflische Erkrankung der Wirbelgelenke in Deinem Rücken zu tun? Um geschützt zu sein gegen den Vorwurf, nicht genügend Anteil zu nehmen an Deinem stummen Leid? Gegen den Vorwurf also, mit dem Du Adriana und Rita von Dir weggetrieben hast, so daß er sich selbst bestätigte?
Doch zurück zum Gericht. Nie werde ich die Ungläubigkeit und das Entsetzen vergessen, die mich erfaßten, als ich sah, wie Staatsanwalt und Verteidiger nach der Urteilsverkündung aufeinander zugingen und zusammen lachten . Ich hätte gedacht, daß so etwas unmöglich wäre, und ich kann es bis zum heutigen Tage nicht begreifen . Euch halte ich zugute: Als Ihr, die Bücher unter dem Arm, den Saal verließt, war Euer Gesicht ernst, man konnte Bedauern hineinlesen. Wie sehr ich mir wünschte, es möge wirklich in Euch sein, dieses Bedauern darüber, daß sich nun eine schwere Zellentür hinter der Diebin schließen würde und daß sich riesige, unerträglich laute Schlüssel im Schloß drehen würden!
Ich habe sie nie vergessen können, jene Diebin. Viele Jahre später beobachtete ich im Kaufhaus eine andere Diebin, eine junge Frau von betörender Schönheit, die lauter glitzernde Dinge mit artistischer Geschicklichkeit in ihren Manteltaschen verschwinden ließ. Verwirrt über das freudige Empfinden, das meine Wahrnehmung begleitete, folgte ich ihr auf ihrem
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