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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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sicher, daß sie noch etwas hinzufügen wollte. Sie drückte die Hülle der Platte so fest, daß die Knöchel weiß wurden. Sie schluckte. Im Mundwinkel bildeten sich feine Bläschen. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Jetzt legte sie den Kopf nach hinten auf die Sofalehne wie jemand, der sich der Müdigkeit ergibt. Das schwarze Samtband rutschte nach oben und gab den Blick auf ein kleines Stück einer Narbe frei.
    »Es war Fátimas Lieblingsmusik«, sagte sie.
    Als die Musik verklungen war und das Ticken der Uhr wieder aus der Stille hervortrat, setzte sich Adriana gerade hin und rückte das samtene Band zurecht. Ihre Stimme besaß die erstaunte Ruhe und erleichterte Sicherheit von jemandem, der gerade eben ein inneres Hindernis überwunden hat, das er für unüberwindlich gehalten hatte.
    »Ein Herzschlag. Mit gerade mal fünfunddreißig. Er konnte es nicht fassen. Mein Bruder, der sich auf alles Neue mit unerhörter, beinahe unmenschlicher Geschwindigkeit einstellen konnte und dessen Geistesgegenwart mit der Plötzlichkeit einer Herausforderung sprunghaft zu wachsen pflegte, so daß er erst richtig zu leben schien, wenn er sich der Lawine eines unerwarteten Geschehens gegenübersah, die übermächtig schien – dieser Mann, der nie genug von der Wirklichkeit bekommen konnte, er konnte nicht glauben, wollte es einfach nicht wahrhaben, daß die weiße Stille in ihrem Gesicht nicht nur die Ruhe des vorübergehenden Schlafs war. Er verbot die Obduktion, der Gedanke an die Messer war ihm unerträglich, er schob die Beerdigung immer wieder hinaus, schrie die Leute an, die ihn an die Realitäten erinnerten. Er verlor vollkommen die Übersicht, bestellte eine Totenmesse, sagte sie wieder ab, vergaß die Absage und kanzelte den Priester ab, als nichts geschah. Ich hätte es wissen können, Adriana , sagte er, sie hatte Herzstolpern, ich habe es nicht ernst genommen, ich bin Arzt und habe es nicht ernst genommen, bei jedem Patienten hätte ich es ernst genommen, bei ihr habe ich es auf die Nerven geschoben, es gab Streit mit den anderen Frauen im Heim, sie sei ja gar keine ausgebildete Kindergärtnerin, sagten sie, sondern nur eine verwöhnte Tochter aus gutem Hause und die Frau eines reichen Arztes, die nicht wisse, wie sie die Zeit sonst totschlagen solle, es hat sie gekränkt, fürchterlich gekränkt, denn sie konnte es so gut, sie war ein Naturtalent, die Kinder fraßen ihr aus der Hand, die anderen waren neidisch, es gelang ihr, die Trauer über die fehlenden eigenen Kinder umzulenken, es gelang ihr so gut, es gelang ihr wirklich gut, auch deshalb kränkte es sie, sie konnte sich nicht wehren, sie fraß es in sich hinein, und da fing das Herz an zu stolpern, manchmal sah es auch nach Tachykardie aus, ich hätte es ernst nehmen müssen, Adriana, warum habe ich sie nicht zu einem Spezialisten geschickt, ich kannte einen, mit dem ich in Coimbra studiert habe, er wurde eine Koryphäe, ich hätte ihn nur anzurufen brauchen, warum habe ich es nicht getan, mein Gott, warum habe ich es nicht getan, nicht einmal abgehört habe ich sie, stell dir vor, nicht einmal abgehört.
    Ein Jahr nach Mamãs Tod waren wir also wieder in einer Totenmesse, sie hätte es gewollt , sagte er, und außerdem muß man dem Tod ja eine Form geben, jedenfalls sagen das die Religionen, ich weiß nicht , plötzlich war er auch in seinen Gedanken verunsichert, não sei, não sei , sagte er dauernd. Bei der Messe für Mamã damals hatte er sich in eine dunkle Ecke gesetzt, damit es nicht auffiel, daß er die Liturgie nicht mitmachte, Rita verstand es nicht, es sind doch nur Gesten, ein Rahmen , sagte sie, du warst Meßdiener, und bei Papá ging es doch auch . Jetzt, bei Fátima, war er so aus dem Gleichgewicht, daß er im einen Moment mitmachte und im nächsten erstarrt sitzen blieb, statt zu beten, und das Schlimmste war: Er machte beim lateinischen Text Fehler. Er! Fehler!
    Er hat in der Öffentlichkeit nie geweint, und so auch am Grab nicht. Es war der dritte Februar, ein ungewöhnlich milder Tag, aber er rieb sich dauernd die Hände, er fror leicht an den Händen, und dann, als sich der Sarg ins Grab zu senken begann, vergrub er die Hände in den Taschen und folgte ihm mit einem Blick, wie ich ihn weder vorher noch nachher an ihm gesehen habe, es war der Blick von einem, der alles begraben muß, was er hat, schlechterdings alles. Ganz anders als am Grab von Papá und Mamã, da stand er da wie einer, der sich lange auf diesen Abschied

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