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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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vorbereitet hat und weiß, daß er auch einen Schritt ins eigene Leben hinein bedeutet.
    Alle spürten, daß er noch allein am Grab bleiben wollte, und so gingen wir. Als ich zurückblickte, stand er neben Fátimas Vater, der auch geblieben war, ein alter Freund von Papá, Amadeu hatte Fátima in seinem Hause kennengelernt und war wie hypnotisiert nach Hause gekommen. Amadeu umarmte den großen Mann, der sich mit dem Ärmel über die Augen fuhr und dann mit übertrieben forschem Schritt wegging. Mein Bruder stand mit gesenktem Kopf, geschlossenen Augen und gefalteten Händen allein vor dem offenen Grab, gewiß eine Viertelstunde lang. Ich könnte schwören, er hat gebetet, ich will, daß er es tat.«
    Ich liebe betende Menschen. Ich brauche ihren Anblick. Ich brauche ihn gegen das tückische Gift des Oberflächlichen und Gedankenlosen. Gregorius sah den Schüler Prado vor sich, wie er in der Aula des Liceu über seine Liebe zu Kathedralen gesprochen hatte. O sacerdote ateu , hörte er João Eça sagen.
    Gregorius hätte erwartet, daß sie sich beim Abschied die Hand geben würden, zum erstenmal. Doch dann trat die alte Frau, der jetzt eine graue Strähne ins Gesicht fiel, langsam auf ihn zu, bis sie ganz dicht vor ihm stand und er die sonderbare Mischung aus Parfum und Medizin an ihr riechen konnte. Es war ihm danach zurückzuweichen, doch die Art, wie sie jetzt die Augen schloß und die Hände zu seinem Gesicht führte, hatte etwas Gebieterisches. Wie eine Blinde fuhr sie mit kalten, zitternden Fingern, die nur die leiseste Berührung suchten, seinen Zügen entlang. Bei der Berührung der Brille stockte sie. Prado hatte eine Brille mit runden Gläsern getragen, in Gold gefaßt. Er, Gregorius, war der Fremde, der den Stillstand der Zeit beendet und den Tod des Bruders besiegelt hatte. Und er war auch dieser Bruder selbst, der in der Erzählung wieder lebendig geworden war. Der Bruder – dessen war Gregorius in diesem Augenblick sicher –, der auch etwas mit der Narbe unter dem samtenen Band und mit den roten Zedern zu tun hatte.
    Adriana stand verlegen vor ihm, die Arme an der Seite, den Blick gesenkt. Gregorius faßte sie mit beiden Händen an den Schultern. »Ich komme wieder«, sagte er.

27
     
    Er lag noch keine halbe Stunde auf dem Bett, als der Portier ihm Besuch meldete. Er traute seinen Augen nicht: Es war Adriana, die, auf einen Stock gestützt, mitten in der Hotelhalle stand, eingehüllt in einen langen, schwarzen Mantel, um den Kopf das gehäkelte Tuch. Sie bot den rührenden und zugleich pathetischen Anblick einer Frau, die ihr Haus seit vielen Jahren zum erstenmal verlassen hatte und nun in einer Welt stand, die sie nicht mehr kannte, so daß sie sich in ihr nicht einmal zu setzen traute.
    Jetzt knöpfte sie den Mantel auf und holte zwei Umschläge hervor.
    »Ich… ich möchte, daß Sie das lesen«, sagte sie steif und unsicher, als sei das Sprechen draußen in der Welt schwieriger, oder doch etwas anderes, als drinnen. »Den einen Brief habe ich gefunden, als wir nach Mamãs Tod das Haus räumten. Um ein Haar hätte Amadeu ihn zu sehen bekommen, doch ich hatte eine Ahnung, als ich ihn aus dem Geheimfach von Papás Schreibtisch nahm, und versteckte ihn. Den anderen fand ich nach Amadeus Tod in seinem Pult, vergraben unter einem Wust von anderen Papieren.« Sie sah Gregorius scheu an, senkte den Blick, sah ihn von neuem an. »Ich… ich möchte nicht die einzige bleiben, die die Briefe kennt. Rita, nun ja, Rita würde sie nicht verstehen. Und sonst habe ich niemanden.«
    Gregorius tat die Umschläge von der einen in die andere Hand. Er suchte nach Worten und fand sie nicht. »Wie sind Sie überhaupt hergekommen?« fragte er schließlich.
    Draußen im Taxi wartete Clotilde. Als Adriana in die Polster des Rücksitzes sank, war es, als habe dieser Ausflug in die wirkliche Welt ihre gesamte Kraft verbraucht. » Adeus «, hatte sie zu ihm gesagt, bevor sie einstieg. Sie hatte ihm dabei die Hand gegeben, er hatte die Knochen gespürt und die Venen auf dem Handrücken, die unter dem Druck nachgaben. Erstaunt hatte er gespürt, wie kräftig und entschieden der Händedruck war, fast wie der Druck von jemandem, der von morgens bis abends draußen in der Welt lebte und täglich Dutzende von Händen schüttelte.
    Dieser überraschend kräftige, beinahe routinierte Händedruck wirkte in Gregorius nach, als er dem Taxi nachblickte. In Gedanken verwandelte er Adriana zurück in die vierzigjährige Frau, die der alte

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