Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Coutinho beschrieben hatte, als er die herrische Art, mit der sie Patienten behandelte, erwähnte. Wenn es den Schock der Abtreibung nicht gegeben hätte und sie danach ihr eigenes Leben gelebt hätte statt das Leben des Bruders: Was für ein anderer Mensch wäre sie heute!
Im Zimmer öffnete er zuerst den dickeren Umschlag. Es war ein Brief von Amadeu an seinen Vater, den Richter. Ein nie abgeschickter Brief, der über viele Jahre stets von neuem überarbeitet worden war, man sah es an den vielen Korrekturen, an denen man neben unterschiedlich alter Tinte auch eine Entwicklung der Handschrift ablesen konnte.
Verehrter Vater , hatte die ursprüngliche Anrede gelautet, daraus war später Verehrter, gefürchteter Vater geworden, noch später hatte Amadeu geliebter Papá hinzugefügt, und die letzte Ergänzung hatte heimlich geliebter Papá ergeben.
Als Euer Chauffeur mich heute morgen zum Bahnhof fuhr und ich in den Polstern saß, in denen Ihr sonst jeden Morgen sitzt, wußte ich, daß ich all die widersprüchlichen Empfindungen, die mich in Stücke zu reißen drohen, würde in Worte fassen müssen, um nicht länger nur ihr Opfer zu sein. Ich glaube, eine Sache ausdrücken heißt, ihre Kraft bewahren und ihr den Schrecken nehmen , schreibt Pessoa. Am Ende dieses Briefes werde ich wissen, ob er recht hat. Auf dieses Wissen indessen werde ich lange warten müssen; denn schon jetzt, kaum habe ich begonnen, spüre ich, daß es ein langer und steiniger Weg sein wird bis zu der Klarheit, die ich schreibend suche. Und ich ängstige mich, wenn ich an etwas denke, das Pessoa zu erwähnen versäumt hat: die Möglichkeit, daß das Ausdrücken die Sache verfehlen könnte. Was geschieht dann mit ihrer Kraft und ihrem Schrecken?
Ich wünsche dir ein erfolgreiches Semester , sagtet Ihr wie jedesmal, wenn ich nach Coimbra zurückfahre. Nie habt Ihr – weder bei diesen Abschieden noch sonst – Worte gebraucht, die den Wunsch zum Ausdruck gebracht hätten, das beginnende Semester möge mir Befriedigung bringen oder gar Vergnügen machen. Als ich im Wagen über das edle Polster strich, dachte ich: Kennt er das Wort prazer überhaupt? Ist er jemals jung gewesen? Irgendwann ist ihm doch Mamã begegnet. Irgendwann.
Doch obwohl es war wie immer, war es doch dieses Mal auch anders, Papá. Ein Jahr noch, dann kommst du hoffentlich zurück , sagtest Du, als ich schon draußen war. Der Satz hat mich gewürgt, und ich hatte das Gefühl zu stolpern. Es war ein Satz, der aus dem gequälten Mann mit dem gekrümmten Rücken kam und nicht ein Satz aus dem Mund des Richters. Im Auto sitzend versuchte ich ihn als Ausdruck einfacher, reiner Zuneigung zu hören. Doch der Klang mißlang, denn ich wußte: Er möchte vor allem, daß sein Sohn, der Arzt, in seiner Nähe ist und ihm beim Kampf gegen die Schmerzen hilft. »Spricht er manchmal von mir?« fragte ich Enrique am Steuer. Er antwortete lange nicht und gab vor, mit dem Verkehr beschäftigt zu sein. »Ich glaube, er ist sehr stolz auf Sie«, sagte er schließlich.
Daß die portugiesischen Kinder ihre Eltern bis in die fünfziger Jahre selten mit du , meistens in der indirekten Form mit o pai , a mãe angesprochen hatten, wußte Gregorius von Cecília, die zu ihm zuerst você gesagt hatte, um sich nach einer Weile zu unterbrechen und ihm vorzuschlagen, daß sie tu sagen sollten, das andere sei so steif, schließlich sei es die Kurzform von Vossa Mercê , also Euer Gnaden . Mit tu und você war der junge Prado sowohl im Vertraulichen als auch im Förmlichen einen Schritt über das Übliche hinausgegangen und hatte sich dann entschieden, zwischen den beiden Extremen zu wechseln. Oder war es gar keine Entscheidung gewesen, sondern der natürliche, unbedachte Ausdruck seines schwankenden Empfindens?
Mit der Frage an den Chauffeur endete ein Briefbogen. Prado hatte die Bogen nicht numeriert. Die Fortsetzung war abrupt und mit anderer Tinte geschrieben. War das Prados eigene Ordnung, oder hatte Adriana die Reihenfolge bestimmt?
Ihr seid Richter, Vater – ein Mensch also, der beurteilt, verurteilt und bestraft. »Ich weiß nicht mehr, wie es dazu kam«, sagte mir Onkel Ernesto einmal, »es will mir vorkommen, als hätte das schon bei seiner Geburt festgestanden.« Ja, dachte ich damals: genau.
Ich anerkenne: Zu Hause habt Ihr Euch nicht wie ein Richter benommen; Ihr habt Urteile nicht öfter gesprochen als andere Väter, eher seltener. Und doch, Vater, habe ich Eure Wortkargheit, Eure
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