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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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João Eça rauchte. Er rauchte und trank und sagte nichts. Die Dämmerung senkte sich über die Stadt, gleich würden sie zum Abendessen läuten.
    »Nein«, sagte Eça, als Gregorius zum Lichtschalter ging. »Aber schließen Sie die Tür ab.«
    Es wurde rasch dunkel. Die Glut von Eças Zigarette wuchs und schrumpfte. Als er schließlich zu sprechen begann, war es, als habe er, wie bei einem Instrument, einen Dämpfer auf seine Stimme gesetzt, einen Dämpfer, der die Worte nicht nur sanfter und dunkler, sondern auch rauher machte.
    »Das Mädchen. Estefânia Espinhosa. Ich weiß nicht, was Sie darüber wissen. Bin aber sicher, daß Sie davon gehört haben. Sie wollen mich schon lange danach fragen. Ich spüre das. Sie trauen sich nicht. Ich habe seit letzten Sonntag darüber nachgedacht. Es ist besser, wenn ich Ihnen meine Geschichte erzähle. Sie ist, denke ich, nur ein Teil der Wahrheit. Wenn es hier eine Wahrheit gibt. Aber diesen Teil sollen Sie kennen. Was immer die anderen sagen werden.«
    Gregorius schenkte Tee nach. Eças Hände zitterten, als er trank.
    »Sie arbeitete auf der Post. Post ist wichtig für den Widerstand. Post und Eisenbahn. Sie war jung, als O’Kelly sie kennenlernte. Dreiundzwanzig oder vierundzwanzig. Das war 1970, im Frühjahr. Sie hatte dieses unglaubliche Gedächtnis. Vergaß nichts, weder was sie gesehen noch was sie gehört hatte. Adressen, Telefonnummern, Gesichter. Es gab den Scherz mit dem Telefonbuch, das sie auswendig konnte. Sie bildete sich nichts darauf ein. »Wieso könnt ihr das nicht auch?« sagte sie. »Das verstehe ich nicht, wie kann man nur so vergeßlich sein.« Ihre Mutter war davongelaufen oder früh gestorben, ich weiß nicht mehr, und der Vater war eines Morgens verhaftet und verschleppt worden, ein Eisenbahner, den sie wegen Sabotage im Verdacht hatten.
    Sie wurde Jorges Geliebte. Er war ihr verfallen, wir sahen es mit Sorge, so etwas ist immer gefährlich. Sie mochte ihn, aber er war nicht ihre Leidenschaft. Das nagte an ihm, machte ihn gereizt und krankhaft eifersüchtig. »Keine Sorge«, sagte er, wenn ich ihn nachdenklich ansah. »Du bist nicht der einzige, der kein Anfänger ist.«
    Die Schule für Analphabeten war ihre Idee. Brillant. Salazar hatte eine Kampagne gegen den Analphabetismus gestartet, Lesenlernen als patriotische Pflicht. Wir organisierten einen Raum, stellten alte Bänke hinein und ein Pult. Riesige Wandtafel. Das Mädchen besorgte, was es an Unterrichtsmaterialien gab, Bilder zu Buchstaben, solche Dinge. In einer Klasse von Analphabeten kann jedermann sitzen, jedes Alter. Das war der Trick: Niemand brauchte seine Anwesenheit nach außen hin zu rechtfertigen, und außerdem konnte man Schnüfflern gegenüber auf Diskretion bestehen, es ist ein Makel, nicht lesen zu können. Estefânia versandte die Einladungen, vergewisserte sich, daß sie nicht geöffnet wurden, obwohl nur drin stand: Sehen wir uns am Freitag? Kuß, Noëlia , der Phantasiename als Erkennungszeichen.
    Wir trafen uns. Besprachen Aktionen. Für den Fall, daß jemand von der P.I.D.E. auftauchen sollte, und überhaupt ein fremdes Gesicht: Das Mädchen würde einfach zur Kreide greifen, sie hatte die Tafel immer so präpariert, als wären wir mitten im Unterricht. Auch das gehörte zum Trick: Wir konnten uns öffentlich treffen, brauchten uns nicht zu verstecken. Tanzten den Schweinen auf der Nase herum. Widerstand ist nicht zum Lachen. Aber manchmal lachten wir.
    Estefânias Gedächtnis wurde immer wichtiger. Wir brauchten nichts aufzuschreiben, keine schriftlichen Spuren zu hinterlassen. Das ganze Netzwerk war hinter ihrer Stirn. Manchmal habe ich gedacht: Was ist, wenn sie verunglückt? Aber sie war so jung und so schön, das blühende Leben, man schob den Gedanken beiseite, wir machten weiter und landeten einen Coup nach dem anderen.
    Eines Abends, es war im Herbst 1971, betrat Amadeu den Raum. Er sah sie und war verzaubert. Als das Treffen sich auflöste, ging er zu ihr und sprach mit ihr. Jorge wartete unter der Tür. Sie sah Amadeu kaum an, senkte den Blick sofort. Ich sah es kommen.
    Nichts geschah. Jorge und Estefânia blieben zusammen. Amadeu kam nicht mehr zu den Treffen. Später erfuhr ich, daß sie zu ihm in die Praxis ging. Sie war verrückt nach ihm. Amadeu wies sie ab. Er war O’Kelly gegenüber loyal. Loyal bis zur Selbstverleugnung. Den Winter über blieb es bei dieser gespannten Ruhe. Manchmal sah man Jorge mit Amadeu. Etwas hatte sich verändert, etwas

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