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Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)

Titel: Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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dieser Chance, da bin ich sicher, er kannte sich ziemlich gut, besser als die meisten, aber es gab diese Barriere, die eiserne Barriere der Loyalität gegenüber Jorge. Amadeu, er war der loyalste Mensch im Universum, Loyalität war seine Religion. Es stand Loyalität gegen Freiheit und ein bißchen Glück, nichts weniger. Er hatte sich gegen die innere Lawine des Begehrens gestemmt und seine hungrigen Augen abgewandt, wenn er das Mädchen sah. Er wollte Jorge weiterhin in die Augen sehen können, er wollte nicht, daß eine vierzigjährige Freundschaft wegen eines Tagtraums in die Brüche ging, mochte er noch so versengend sein.
    Und jetzt wollte ihm Jorge das Mädchen wegnehmen, das ihm nie gehört hatte. Wollte das labile innere Gleichgewicht zerstören, das es zwischen Loyalität und verleugneter Hoffnung gegeben hatte. Das war zuviel.
    Ich redete mit O’Kelly. Er leugnete, etwas von dieser Art gesagt oder auch nur angedeutet zu haben. Er hatte rote Flecke im unrasierten Gesicht, und es war schwer zu sagen, ob sie mehr mit Estefânia oder mit Amadeu zu tun hatten.
    Er log. Ich wußte es, und er wußte, daß ich es wußte.
    Er hatte angefangen zu trinken, er spürte, daß ihm Estefânia entglitt, mit oder ohne Amadeu, und er hielt es nicht aus.
    ›Wir können sie außer Landes bringen‹, sagte ich.
    ›Sie schnappen sie‹, sagte er, ›der Professor ist gutwillig, aber nicht stark genug, sie knacken ihn, dann wissen sie, daß alles hinter ihrer Stirn ist, und dann jagen sie sie, sie bieten alles auf, was sie haben, das ist einfach zu wichtig, stell dir vor, das ganze Lissaboner Netz , niemand von denen tut noch ein Auge zu, bis sie sie haben, und sie sind eine Armee.‹«
    Die Pflegerinnen hatten wegen des Essens an die Tür geklopft und gerufen, Eça hatte sie ignoriert und weitergeredet. Es war dunkel im Zimmer, und Eças Stimme klang für Gregorius wie aus einer anderen Welt.
    »Was ich jetzt sage, wird Sie schockieren: Ich verstand O’Kelly. Ich verstand sowohl ihn als auch seine Argumente, denn das waren zwei verschiedene Dinge. Wenn sie ihr etwas spritzten und ihr Gedächtnis knackten, waren wir alle dran, etwa zweihundert Leute, und es würde ein Vielfaches, wenn sie sich noch jeden einzeln vornahmen. Es war nicht auszudenken. Man brauchte sich nur einen Teil davon auszumalen, und schon dachte man: Sie muß weg .
    In diesem Sinne verstand ich O’Kelly. Ich glaube auch heute noch: Es wäre ein vertretbarer Mord gewesen. Wer das Gegenteil sagt, macht es sich zu einfach. Mangelnde Phantasie, würde ich sagen. Der Wunsch nach sauberen Händen als oberstes Prinzip. Finde ich abstoßend.
    Ich meine, Amadeu konnte in dieser Sache nicht klar denken, er sah ihre leuchtenden Augen vor sich, den ungewöhnlichen, fast asiatischen Teint, das ansteckende, mitreißende Lachen, den wiegenden Gang, und er wollte einfach nicht, daß das alles erlosch, er konnte es nicht wollen , und ich bin froh, daß er es nicht konnte, denn alles andere hätte ihn zu einem Monster gemacht, einem Monster an Selbstverleugnung.
    O’Kelly dagegen – ich hatte ihn im Verdacht, daß er darin auch eine Erlösung sah, eine Erlösung von der Qual, sie nicht mehr halten zu können und zu wissen, daß die Leidenschaft sie zu Amadeu hinzog. Und auch darin verstand ich ihn, aber in ganz anderem Sinne, nämlich ohne Billigung. Ich verstand ihn, weil ich mich in seinem Gefühl wiedererkannte. Es war lange her, aber auch ich hatte eine Frau an einen anderen verloren, und auch sie hatte Musik in mein Leben gebracht, nicht Bach wie bei O’Kelly, sondern Schubert. Ich wußte, was es hieß, von einer solchen Erlösung zu träumen, und ich wußte, wie sehr man nach einem Vorwand suchen kann für einen solchen Plan.
    Und genau deshalb fiel ich O’Kelly in den Arm. Ich holte das Mädchen aus dem Versteck und brachte es in die blaue Praxis. Adriana haßte mich dafür, aber sie haßte mich schon vorher, ich war für sie der Mann, der ihr den Bruder in den Widerstand entführt hatte.
    Ich sprach mit Leuten, die sich in den Bergen an der Grenze auskannten, und instruierte Amadeu. Er blieb eine Woche weg. Als er zurückkam, wurde er krank. Estefânia habe ich nie mehr gesehen.
    Mich haben sie kurz darauf geschnappt, aber das hatte nichts mit ihr zu tun. Sie soll auf Amadeus Beerdigung gewesen sein. Viel später hörte ich, daß sie in Salamanca arbeitete, als Dozentin für Geschichte.
    Mit O’Kelly habe ich zehn Jahre lang kein Wort geredet. Heute geht es

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