Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
meine Wege, spricht der herr , sondern soviel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken.
Prado hatte ernst genommen, daß Gott eine Person war, die denken, wollen und fühlen konnte. Dann hatte er sich, wie bei jeder anderen Person, angehört, was er sagte, und hatte gefunden: Mit einem derart überheblichen Charakter will ich nichts zu tun haben. Hatte Gott einen Charakter ? Gregorius dachte an Ruth Gautschi und David Lehmann und an seine eigenen Worte über den poetischen Ernst, über den hinaus es keinen größeren Ernst mehr gab. Bern war weit weg.
Eure Unnahbarkeit, Vater. Mamã als die Dolmetscherin, die uns Eure Stummheit übersetzen mußte. Warum habt Ihr nicht selbst über Euch und Eure Gefühle sprechen gelernt? Ich will es Euch sagen: Ihr wart zu bequem, es war so wunderbar bequem, Euch hinter der südländischen Rolle des adligen Familienoberhaupts zu verstecken. Und dazu kam die Rolle des wortkargen Leidenden, bei dem die Sprachlosigkeit eine Tugend ist, nämlich die Größe, sich über die Schmerzen nicht zu beklagen. Und so war Eure Krankheit die Absolution für Euren fehlenden Willen, Euch ausdrücken zu lernen. Eure Arroganz: Die anderen sollten Euch in Eurem Leiden erraten lernen.
Habt Ihr nicht gemerkt, was Ihr an Selbstbestimmung verspieltet, die einer doch nur in dem Maße hat, in dem er versteht, sich zur Sprache zu bringen?
Hast Du nie daran gedacht, Papá, daß es für uns alle auch eine Last sein könnte, daß Du nicht über die Schmerzen sprachst und über die Demütigung des gekrümmten Rückens? Daß Dein stummes, heldenhaftes Ertragen, das nicht ohne Eitelkeit war, für uns bedrängender sein könnte, als wenn Du auch einmal geflucht und Tränen des Selbstmitleids vergossen hättest, die man Dir hätte aus den Augen wischen können? Denn es bedeutete doch: Wir, die Kinder, und vor allem ich, der Sohn, wir hatten, gefangengesetzt im Bannkreis Deiner Tapferkeit, kein Recht, uns zu beklagen, jedes solche Recht war, noch bevor es eingeklagt wurde – ja, bevor einer von uns auch nur daran dachte , es einzuklagen – aufgesogen, verschluckt, vernichtet durch Deine Tapferkeit und Dein tapfer ertragenes Leid.
Du wolltest keine Schmerzmittel, Du wolltest den klaren Kopf nicht verlieren, darin warst Du apodiktisch. Einmal dann, als Du Dich unbeobachtet wähntest, habe ich Dich durch den Türspalt beobachtet. Du nahmst eine Tablette, und nach kurzem Kampf stecktest Du auch die zweite in den Mund. Als ich nach einer Weile wieder hineinsah, lehntest Du im Sessel, den Kopf in den Polstern, die Brille im Schoß, den Mund halb geöffnet. Natürlich war es undenkbar: aber wie gerne wäre ich hineingegangen und hätte Dich gestreichelt!
Kein einziges Mal habe ich Dich weinen sehen, mit unbewegter Miene standest Du dabei, als wir Carlos, den geliebten – auch von Dir geliebten – Hund begruben. Du warst kein seelenloser Mensch, gewiß nicht. Aber warum hast Du ein Leben lang getan, als sei die Seele etwas, dessen man sich schämen müsse, etwas Unziemliches, ein Ort der Schwäche, den man versteckt halten müsse, beinahe um jeden Preis?
Durch Dich haben wir alle von Kind an gelernt, daß wir zuallererst Körper sind und daß nichts in unseren Gedanken ist, was nicht zuvor im Leib war. Und dann – was für ein Paradox! – hast Du uns jede Bildung in Zärtlichkeit vorenthalten, so daß wir gar nicht glauben konnten, daß Du Mamã nahe genug gekommen warst, um uns zu zeugen. Nicht er ist es gewesen , sagte Mélodie einmal, es ist der Amazonas gewesen . Nur einmal habe ich gespürt, daß Du wußtest, was eine Frau ist: als Fátima hereinkam. Nichts an Dir veränderte sich, und es veränderte sich alles. Was ein magnetisches Feld ist – da habe ich es zum erstenmal begriffen.
Hier endete der Brief. Gregorius tat die Bogen zurück in den Umschlag. Dabei bemerkte er eine mit Bleistift geschriebene Notiz auf der Rückseite des letzten Bogens. Was habe ich von Deiner Phantasie gewußt? Warum wissen wir so wenig über die Phantasie unserer Eltern? Was wissen wir von jemandem, wenn wir nichts über die Bilder wissen, die seine Einbildungskraft ihm zuspielt? Gregorius steckte den Umschlag weg und fuhr zu João Eça.
31
Eça hatte Weiß, fing aber nicht an. Gregorius hatte Tee gekocht und beiden eine halbe Tasse eingeschenkt. Er rauchte eine von den Zigaretten, die Silveiras Frau im Schlafzimmer vergessen hatte. Auch
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